So bleibt die Flotte flott

Wie lange halten unsere Trans­for­ma­toren noch? Diese Frage stellen sich welt­weit immer mehr Netz­be­treiber, deren Flotten zuneh­mend in die Jahre kommen. Früher entschied oft allein das Alter über eine Erneue­rung – unab­hängig vom tatsäch­li­chen Zustand. Eine neue Methode ändert das.


Über die Bade­wan­nen­kurve haben sich Jan Patrick Linos­sier und Rolf Funk schon häufig den Kopf zerbro­chen. Beide sind bei der Rhei­ni­schen NETZ­Ge­sell­schaft (RNG) für das stra­te­gi­sche Asset-Manage­ment zuständig und verant­wort­lich für die Zustands- und Risi­ko­be­wer­tung der einge­setzten  Betriebs­mittel. Dazu gehören auch die rund 100 Leis­tungs­trans­for­ma­toren, die der Verteil­netz­be­treiber aus Köln für sein etwa 20.000 Kilo­meter umfas­sendes Strom­netz betreibt. „Wir müssen den Zustand unserer Trans­for­ma­toren sehr genau kennen. Halten sie noch oder müssen wir in neue inves­tieren? – das ist eine Frage, die uns ständig umtreibt. Aber keiner in der Branche weiß genau, wie lange ein Trans­for­mator letzt­end­lich hält“, sagt Linos­sier, der das stra­te­gi­sche Asset-Manage­ment leitet.

MEHR STÖRUNGEN MIT ZUNEHMENDEM ALTER

Die Bade­wan­nen­kurve ist ein Modell, um die Stör­an­fäl­lig­keit von Betriebs­mit­teln über deren gesamte Lebens­dauer zu beschreiben: Bei Inbe­trieb­nahme ist die Ausfall­rate noch sehr hoch. Sind die Start­schwie­rig­keiten erst einmal besei­tigt, fällt die Fehler­quote rasch und pendelt sich auf einem konstant nied­rigen Niveau ein. Daran ändert sich lange Zeit nichts. Doch mit zuneh­mendem Alter häufen sich die Störungen ab einem gewissen Punkt wieder. Trägt man diesen Verlauf in einen Graphen ein, bei dem auf der X‑Achse die Zeit und auf der Y‑Achse die Ausfall­rate verzeichnet sind, ähnelt die Kurve dem Quer­schnitt durch eine Bade­wanne.

Jan Patrick Linos­sier, Leiter des Asset Manage­ments bei der RNG (rechts), und Alexei Babizki, Port­folio Manager bei MR, sind zufrieden mit den Ergeb­nissen der Pilot­studie. (© Dirk Moll)

Was Linos­sier und Funk dabei viel Kopf­zer­bre­chen bereitet, ist: An welchem Punkt der Bade­wan­nen­kurve befinden sich ihre Transfor matoren aktuell? Wann beginnt die Ausfall­rate zu steigen? „Dann sollten wir nämlich eine Erneue­rung einleiten“, sagt Funk, der im stra­te­gi­schen Asset-Manage­ment auf die Leis­tungs­trans­for­ma­toren spezia­li­siert ist. Die Frage wird immer akuter: Das Durch­schnitts­alter der Trans­for­ma­toren bei der RNG beträgt 45,7 Jahre. Ein Groß­teil davon wurde in den 50er- und 60er-Jahren in Betrieb genommen. Die Entschei­dung, diese zu erneuern, ist nicht nur eine tech­ni­sche, sondern auch eine finan­zi­elle: Ein neuer Leis­tungs­trans­for­mator dieser Größen­ord­nung kostet fast eine halbe Million Euro. „Früher hat man die Trans­for­ma­toren einfach nach einer bestimmten Zeit durch neue ersetzt, aber der Kosten­druck ist heute höher. Daher wollen wir die Betriebs­mittel so lange wie möglich optimal ausnutzen“, sagt Linos­sier.

„Es gibt Trans­for­ma­toren im Indus­trie­be­reich, die müssen schon nach 15 Jahren ersetzt werden, und dann gibt es solche, die nur mit 30 Prozent Last fahren und schon über 50 Jahre im Betrieb sind. Das Alter allein sagt also nicht unbe­dingt etwas über den Zustand aus.“Alexei Babizki

Mit ihrer alternden Trans­for­ma­to­ren­flotte steht die  RNG  nicht alleine da: In den zwei Jahr­zehnten nach dem  Zweiten  Welt­krieg stieg der Bedarf nach immer mehr Strom rasant an. Neue Kraft­werke wurden gebaut, Leitungen verlegt und zahl­reiche Umspann­werke errichtet. Das Strom­netz von heute basiert noch in weiten Teilen auf den Planungen dieser Zeit. Das ist nicht nur in ganz Deutsch­land, sondern in allen modernen Indus­trie­na­tionen so. Aller­dings waren die Last­pro­gnosen damals noch ganz andere.

„Durch die erneu­er­baren Ener­gien müssen Netz­struk­turen ganz anders gedacht werden, da ist es von stra­te­gi­scher Bedeu­tung, den Zustand unserer Trans­for­ma­toren genau zu kennen“, betont Linos­sier. Zum einen, weil sich die Auslas­tung der Trans­for­ma­toren ändert, und zum anderen, weil der Netz­umbau manche Anlagen in Zukunft über­flüssig macht. „Wenn wir zu früh erneuern, könnte sich das später als Fehl­in­ves­ti­tion heraus­stellen“, erklärt Funk. Eine Bewer­tungs­me­thode, mit der er den Zustand der Trans­for­ma­to­ren­flotte genau einschätzen konnte, fehlte bisher.

KOOPERATION IN DER STRASSENBAHN

Das sollte sich durch eine zufäl­lige Begeg­nung in einer Stra­ßen­bahn in Lyon ändern. Alexei Babizki, Port­folio Manager bei MR, und Markus Zdrallek, Professor an der Bergi­schen Univer­sität in Wuppertal, kamen dort auf dem Weg zum Flug­hafen zufällig ins Gespräch. Sie hatten gerade den glei­chen Kongress besucht. Zdrallek leitet den Lehr­stuhl für Elek­tri­sche Ener­gie­ver­sor­gungs­technik und beschäf­tigt sich schon seit vielen Jahren mit der Zustands­be­wer­tung von Betriebs­mit­teln in Strom­netzen. „Wir möchten den Netz­be­trei­bern eine wissen­schaft­liche Basis für intel­li­gente Erneue­rungs­stra­te­gien ihrer Netze bieten“, sagt Zdrallek, „aber die Leis­tungs­trans­for­ma­toren fehlten noch in meiner Forschung.“

DIE FLOTTE IMMER IM BLICK – SO GEHT’S:

Die Zustands­be­wer­tung der Trans­for­ma­toren erfolgt in bis zu drei Schritten, womit die Abschalt­zeit der Trans­for­ma­toren redu­ziert werden kann:

1 Im ersten Schritt stellt der Betreiber bereits bestehende Daten zur Verfü­gung. Dazu zählen zum Beispiel das Alter der Trans­for­ma­toren, bereits durch­ge­führte Messungen und Infor­ma­tionen zur Wartungs­his­torie.

2 Im zweiten Schritt folgt dann die Begut­ach­tung vor Ort, die bei laufendem Betrieb der Trans­for­ma­toren durch­ge­führt wird. Bei der visu­ellen Inspek­tion über­prüft ein Experte mittels einer Check­liste den Trans­for­mator nach äußer­li­chen Merk­malen: Gibt es Korrosions­erscheinungen oder Lecks? Sind an den Durch­füh­rungen oder den Venti­la­toren sicht­bare Schäden zu sehen? Wie alt ist der Motor­an­trieb? Für die Messungen werden ther­mo­gra­fi­sche Unter­su­chungen gemacht und Ölproben entnommen.

3 Ergeben sich nach dieser Stufe Hinweise auf größere Schäden, folgt der dritte Unter­su­chungs­schritt, bei dem aufwen­dige Messungen wie zum Beispiel eine dyna­mi­sche Wider­stands­mes­sung oder Teil­ent­la­dungs­mes­sungen durch­ge­führt werden. Dafür muss der Trans­for­mator aller­dings vom Netz.

Die dabei gewon­nenen Daten werden ausge­wertet. Mit dem von der Bergi­schen Univer­sität in Wuppertal und MR entwi­ckelten Algo­rithmus erfolgt die Analyse, dann werden die Daten in zwei Indizes über­führt: Ein Index gibt Auskunft über den Lebens­dau­er­ver­brauch, der andere über das Ausfall­ri­siko. Für die Auswer­tung werden die Ergeb­nisse der beiden Indizes in eine Grafik über­führt. So lässt sich der Zustand der Transformatoren­flotte einfach visua­li­sieren: Je mehr Trans­for­ma­toren sich in den Quadranten nahe dem Ursprung befinden, desto besser steht die Flotte da und umge­kehrt.

Das Inter­esse von Babizki war sofort geweckt. Denn er ist auf der Suche nach einer Syste­matik, mit der er den Zustand von Leis­tungs­trans­for­ma­toren bestimmen kann. Er weiß, daraus lässt sich ein wich­tiger Service für die MR-Kunden entwi­ckeln: „Wie lang ein Trans­for­mator durch­hält, lässt sich nicht pauschal sagen. Es gibt Trans­for­ma­toren im Indus­trie­be­reich, die müssen schon nach 15 Jahren ersetzt werden, und dann gibt es solche, die nur mit 30 Prozent Last fahren und schon über 50 Jahre im Betrieb sind. Das Alter allein sagt also nicht unbe­dingt etwas über den Zustand aus“, sagt Babizki. Zdrallek und er sind sich schnell einig: Das ist ein ideales Thema für eine Koope­ra­tion.

„Für uns ist es von stra­te­gi­scher Bedeu­tung, den Zustand unserer Trans­for­ma­toren genau zu kennen.“Jan Patrick Linos­sier

„Uns fehlte das fundierte Wissen zu den Trans­for­ma­toren, dafür konnten wir unser umfang­rei­ches Know-how bezüg­lich der Konzep­tion von Zustands­be­wer­tungen einbringen“, erin­nert sich Zdrallek. Der Forscher erhofft sich von dem Projekt, mehr über das Alte­rungs­ver­halten von Trans­for­ma­toren zu erfahren. Denn die Bade­wan­nen­kurve beschäf­tigt auch ihn. „Die Kurve wird in der Theorie häufig beschrieben und für manche Elemente der Elek­tronik wurde sie auch nach­ge­wiesen. Aber ich fragte mich, ob es die Kurve bei Netz­kom­po­nenten und insbe­son­dere Trans­for­ma­toren über­haupt gibt. Bisher hat sie nämlich noch keiner nach­ge­wiesen“, so Zdrallek. Die Koope­ra­tion zwischen den  Part­nern beginnt. In mehreren Treffen und Work­shops entwi­ckeln sie gemeinsam eine Bewer­tungs­sys­te­matik.

LEBENSDAUER UND AUSFALLRISIKO IM BLICK

Was jedoch noch fehlt, sind Trans­for­ma­toren, an denen sie ihre Bewer­tungs­sys­te­matik testen können. Zdrallek denkt da gleich an die RNG, mit der er bereits zahl­reiche Projekte reali­siert hat. Dort müssen Linos­sier und Funk nicht lange über­legen. „Der Ansatz schien uns sehr viel­ver­spre­chend, deshalb willigten wir sofort ein, an einer Pilot­studie mitzu­wirken“, sagt Linos­sier. Das Beson­dere daran: Die Syste­matik (siehe Kasten) betrachtet den Trans­for­mator aus zwei Perspek­tiven. Aus einer lang­fris­tigen, die die Lebens­dauer im Blick hat und damit für Inves­ti­ti­ons­ent­schei­dungen wichtig ist. Und einer kurz­fris­tigen, die auf das Ausfall­ri­siko abzielt und wartungs­re­le­vante Entschei­dungen betrifft.

Markus Zdrallek, Professor an der Bergi­schen Univer­sität in Wuppertal, erhofft sich von der Syste­matik neue Forschungs­im­pulse für das Alte­rungs­ver­halten von Leis­tungs­trans­for­ma­toren. (© Dirk Moll)

Alle Haupt­kom­po­nenten der Trans­for­ma­toren werden dafür genau unter­sucht: vom Last­stu­fen­schalter über den Motor­an­trieb bis hin zu den Venti­la­toren für die Kühlung. Insge­samt ca. 200 Para­meter fließen am Ende in die Bewer­tung ein: Daten zur Wartungs­his­torie ebenso wie die Ergeb­nisse aus Messungen vor Ort. Das gesam­melte Daten­ma­te­rial wird anschlie­ßend mit einem spezi­ellen Algo­rithmus ausge­wertet. „Es gibt zahl­reiche Indi­ka­toren, die auf den Zustand des Trans­for­ma­tors schließen lassen. Zeigt sich zum Beispiel bei der ther­mo­gra­fi­schen Messung, dass ein bestimmter Bereich des Trans­for­ma­tors heiß ist, kann man den Fehler eingrenzen. Dann sind detail­lierte Mess­me­thoden erfor­der­lich“, erklärt Zdrallek. Beson­ders wichtig für die Beur­tei­lung ist auch die Analyse des Öls, die MR im Labor ihrer Tochter Messko durch­führen kann. Babizki verdeut­licht: „Das ist ein biss­chen wie beim Blut­bild eines Menschen. Da deutet eine erhöhte Anzahl weißer Blut­kör­per­chen auf eine Entzün­dung hin. Beim Trans­for­ma­to­renöl ist zum Beispiel ein erhöhter Acetyl­en­wert ein Hinweis auf einen Licht­bogen – für den Zustand des Trans­for­ma­tors ist das ein schlechtes Indiz.“

INSTRUMENT FÜR OBJEKTIVE FLOTTENBEWERTUNG

Für die Pilot­studie stellte die RNG neun Trans­for­ma­toren zur Verfü­gung. Linos­sier erklärt: „Wir haben die Auswahl so getroffen, dass sie einen reprä­sen­ta­tiven Quer­schnitt unserer Flotte wider­spie­gelt.“ Nach umfang­rei­chen Unter­su­chungen und der anschlie­ßenden Auswer­tung standen die Ergeb­nisse fest: Alle Trans­for­ma­toren befinden sich in einem guten Zustand. Bei manchen kann durch einfache Maßnahmen das Ausfall­ri­siko sogar redu­ziert und die Nutzungs­dauer verlän­gert werden. „Das ist der Vorteil unserer Methode: Wir bieten unseren Kunden nicht nur eine Zustands­be­wer­tung, sondern können gleich auch Hand­lungs­emp­feh­lungen abge­geben“, betont Babizki.

Die Partner berück­sich­tigten auch Sonder­fälle. So deutete bei einem Trans­for­mator ein hoher Acetyl­en­wert auf ein Problem hin. Linos­sier betont: „MR wies uns darauf hin, dass dieser Wert modell­ab­hängig vari­ieren kann.“ Die Grenz­wert­über­schrei­tung im Trans­for­ma­to­renöl war somit harmlos, eine Erneue­rung wäre also über­flüssig gewesen. „Wir haben den Algo­rithmus so ausge­legt, dass der einge­setzte Stufen­schal­tertyp berück­sich­tigt wird“, erklärt Babizki.

Auch Zdrallek ist mit der neuen Methode zufrieden: „Das ist aus wissen­schaft­li­cher Sicht span­nend. Wenn viele Netz­be­treiber damit arbeiten, können wir mit dem gewon­nenen Daten­ma­te­rial viel­leicht irgend­wann heraus­finden, ob es die Bade­wan­nen­kurve tatsäch­lich gibt.“ Die RNG jeden­falls hat beschlossen, einen Groß­teil ihrer Trans­for­ma­to­ren­flotte mit der Methode unter die Lupe zu nehmen. „Wir haben jetzt ein Instru­ment, mit dem wir den Zustand unserer Flotte objektiv bewerten können. Für unsere stra­te­gi­schen Entschei­dungen ist das enorm wichtig“, betont Linos­sier.

Erfahren Sie noch mehr über die Zusam­men­ar­beit im Inter­view mit Jan Patrick Linos­sier und Markus Zdrallek.

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a.babizki@reinhausen.com


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