In diesem Gastbeitrag erläutert die norwegische Ingenieurin und Vizepräsidentin Technik bei der CIGRE, Rannveig S. J. Løken, die Gründung von CIGRE, der weltweit führenden Organisation für den Wissensaustausch im Bereich der Stromversorgung, und die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Experten aus Unternehmen wie Reinhausen.

Als 1881 bei der „Ersten Internationalen Elektrizitätsausstellung“ in Paris Hunderte Glühlampen den Palais de l’Industrie erleuchteten, war das eine Sensation: So hell erstrahlte niemals zuvor ein Gebäude in Europa! Die Ausstellung gab der Elektrifizierung einen riesigen Schub und trug dazu bei, dass sich die damals noch neue Technologie rund um den Globus immer mehr verbreitete – wenn auch nicht überall im gleichen Tempo. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg der Energiebedarf sprunghaft an – Fabriken rüsteten um, und immer häufiger trieben nicht mehr Dampf und Kohle die Maschinen an, sondern elektrische Motoren. Doch selbst in den großen Metropolen wie Paris, Berlin, London oder New York, wo nachts die Straßenlaternen die Boulevards erleuchteten und Straßenbahnen elektrisch über die Gleise rollten, hatte zu Beginn der 1920er-Jahre noch nicht jeder Bewohner Zugang zu Strom. Auf dem Land sah es des Nachts besonders düster aus – vielerorts hatte die Elektrizität hier noch gar nicht Einzug gehalten.
Um mehr Menschen mit Strom zu versorgen und den zunehmenden Bedarf der Industrie zu decken, brauchte es dringend flächendeckende Stromnetze. Doch es fehlten Standards und Normen, um den Ausbau zu beschleunigen. Und auch der Wissensaustausch unter den Experten war lückenhaft. Eine Gruppe von Ingenieuren beschloss, das zu ändern. Im November 1921 – also 40 Jahre nach der denkwürdigen Ausstellung und ebenfalls in Paris – gründeten sie den Conseil International des Grands Réseaux Électriques (Internationaler Rat für große elektrische Netze), kurz: die CIGRE. Ziel der gemeinnützigen Organisation war und ist es bis heute, den internationalen Wissensaustausch zwischen Fachleuten aus Industrie, Forschung und von Energieversorgern zu fördern und so den sicheren und zuverlässigen Ausbau elektrischer Hochspannungsnetze weltweit zu ermöglichen.
Von Beginn an sollten dabei technische, wirtschaftliche und industrielle Fragen ebenso berücksichtigt werden wie die gesellschaftlichen Auswirkungen der Elektrifizierung. Bis heute leistet die CIGRE wesentliche Beiträge zum Ausbau einer sicheren und wirtschaftlichen Versorgung der Weltbevölkerung mit elektrischer Energie und erarbeitete vielfach Grundlagen und technische Empfehlungen, die in die internationale Normung einflossen – etwa durch die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC).
Rannveig S. J. Løken, Ingenieurin und Vizepräsidentin Technik bei der CIGRE
Die Erfindung des Laststufenschalters durch den Ingenieur Dr. Bernhard Jansen – präziser: die Veröffentlichung des Patents für den sogenannten Widerstandsschnellschalter – nur fünf Jahre nach Gründung der CIGRE war im Rückblick eine Revolution für die Energiewelt. Das Prinzip ermöglichte es erstmals, Transformatoren unter Last zu regeln. Dadurch wurde es machbar, auch komplexe Netzinfrastrukturen zu realisieren und ehemals isolierte Versorgungsnetze miteinander zu verbinden. Eine wichtige Voraussetzung, um die Elektrifizierung auch in die Fläche zu tragen. Ein Anliegen, das den Gründern der CIGRE wichtig war. Zwar hat die Organisation mit ihrer Arbeit keinen unmittelbaren Anteil an der genialen Erfindung, aber sie trug später entscheidend dazu bei, den Einsatz und die Weiterentwicklung der Laststufenschaltertechnologie zu fördern.
Eine gemeinsame Erfolgsgeschichte
Die Maschinenfabrik Reinhausen erwies der Energiewelt aber nicht nur mit dem Laststufenschalter einen großen Dienst, sondern auch mit ihrem Expertenwissen, das sie seit Jahrzehnten in die Studienkomitees und Arbeitsgruppen der CIGRE einbringt. Für die Organisation ist es sehr wichtig, dass Unternehmen wie die Maschinenfabrik Reinhausen ihr Wissen und bewährte Verfahren teilen.
So leistete MR einen entscheidenden Beitrag für das sogenannte Studienkomitee A2, welches sich mit Leistungstransformatoren und Drosseln beschäftigt. Mit dem Ziel, das Wissen über die Komponenten entlang ihres gesamten Lebenszyklus zu verbessern – von Design und Fertigung über Prüfung, Betrieb, Wartung und Lebensdauerbewertung bis hin zur Entsorgung. Die Experten auf diesem Gebiet geben wichtige Impulse, beispielsweise für die Verbesserung von Betriebs- und Wartungsstrategien.
Im Studienkomitee D1, das sich mit dem Fachgebiet „Werksto¹e und neuartige Prüftechniken“ befasst, arbeiten Experten daran mit, Standards für neue Isolationsmaterialien und Prüftechniken zu entwickeln, die einen sicheren und nachhaltigen Betrieb elektrischer Energieanlagen gewährleisten. Das sind alles Aspekte, die für eine zuverlässige und zukunftsfähige Stromversorgung wichtig sind.
Zur Person
Rannveig S. J. Løken ist seit August 2024 Vizepräsidentin Technik bei der CIGRE und Expertin für elektrische Energiesysteme mit über 30 Jahren Erfahrung. Sie arbeitet bei Statnett, dem norwegischen Übertragungsnetzbetreiber. Seit 2006 engagiert sie sich aktiv in der CIGRE, war von 2018 bis 2024 Vorsitzende des Study Committee B5 „Protection & Automation“ und leitet den norwegischen CIGRE-Ausschuss. 2024 erhielt sie den CIGRE Honorary Award.
Eine neue Ära beginnt
Persönlich bin ich mit der CIGRE seit 2006 verbunden, als ich begann, in den ersten Arbeitsgruppen mitzuarbeiten. Daher ist es eine große Ehre für mich, dass ich mich seit August 2024 als Vizepräsidentin Technik noch stärker für die Ziele der globalen und gemeinnützigen Organisation einsetzen kann. Diese sind meiner Meinung nach heute wichtiger denn je. Wie zu Beginn der 1920er-Jahre stehen wir aktuell wieder vor gewaltigen Herausforderungen.
Die Energiewelt befindet sich in einem fundamentalen Wandel: Die Energiewende fordert unsere Netze in nie dagewesenem Ausmaß. Hinzu kommen die Digitalisierung mit immer mehr Datencentern, deren gigantische Rechenleistungen gewaltige Mengen Strom benötigen, sowie die Elektrifizierung neuer Sektoren wie Mobilität und Wärme. Zugleich haben wir es mit alternden Stromnetzen zu tun, die zum Teil noch aus den 1950er-Jahren stammen. Und auch wenn es für uns heute längst eine Selbstverständlichkeit ist, dass auf Knopfdruck das Licht angeht: Laut Internationaler Energieagentur haben weltweit etwa 745 Millionen Menschen immer noch keinen Zugang zu Elektrizität.
Rannveig S. J. Løken, Ingenieurin und Vizepräsidentin Technik bei der CIGRE
Es gibt also viel zu tun, und ich bin überzeugt, dass die CIGRE hier einen entscheidenden Beitrag leisten kann, diese komplexen und vielschichtigen Herausforderungen zu meistern und damit die Zukunft der Elektrizität zu sichern. Im „CIGRE Strategy Plan – Horizon 2030: Entering Our Second Century with Renewed Vision“ legen wir unsere Vision dar, wie wir die globale Energiewende aktiv mitgestalten wollen. In den letzten 100 Jahren standen vor allem die Versorgungssicherheit und die Standardisierung der Technik im Mittelpunkt.
Jetzt geht es darum, wie die Transformation von klassischen Stromnetzen hin zu flexiblen, dezentralen, digitalen und nachhaltigen Energiesystemen gelingen kann. Um das zu erreichen, brauchen wir weiterhin internationale Experten aus der Forschung, das Praxiswissen der Energieversorger und eben auch das Know-how von Unternehmen wie der MR. Denn die Entwicklung von Produkten wie dem Laststufenschalter war und ist für das Energiesystem der Zukunft immer noch von großer Bedeutung. Ich gratuliere daher herzlich zum hundertjährigen Jubiläum des Patents für den Widerstandsschnellschalter! Wir hoffen, dass es noch viele weitere Innovationen geben wird, und natürlich weiterhin eine Unterstützung der CIGRE durch Reinhausen.
Über die CIGRE
Die CIGRE (Conseil International des Grands Réseaux Électriques) ist eine gemeinnützige internationale Fachorganisation für elektrische Energiesysteme und Hochspannungsnetze. Als globales Forum für Fachleute fördert sie den Austausch von Wissen, um eine sichere, wirtschaftliche und nachhaltige Stromversorgung zu gewährleisten und die technischen Herausforderungen der Branche — etwa Netzintegration, Digitalisierung und erneuerbare Energien — zu meistern.
Heute zählt die CIGRE nahezu 20.000 Mitglieder in über 90 Ländern. In ihrem weltweiten Netzwerk sind 61 Nationalkomitees aktiv. Die fachliche Arbeit erfolgt über 16 Studienkomitees, die gemeinsam mit mehr als 250 Arbeitsgruppen praxisorientiertes Wissen zu modernen Stromsystemen zusammenstellen. Die CIGRE veranstaltet regelmäßig Symposien und Konferenzen. Höhepunkt ist die alle zwei Jahre in Paris stattfindende „Paris Session“ mit internationalem Kongress und Ausstellung. Zudem veröffentlicht die Organisation kontinuierlich Fachbeiträge, Studien und sogenannte Technical Brochures.


