Markus Zdrallek, Professor an der Bergischen Universität in Wuppertal, und Jan Patrick Linossier, Leiter des strategischen Assetmanagements bei der Rheinischen NETZGesellschaft (RNG), haben gemeinsam mit MR eine neue Methodik für die Zustandsbewertung von Leistungstransformatoren entwickelt. Im Interview verraten sie, was die neue Systematik kann.
Warum ist es so wichtig, den Zustand von Leistungstransformatoren genau zu kennen?
ZDRALLEK: Die Zustandsbewertung ist in allen Spannungsebenen und im Prinzip bei allen Komponenten wichtig. Aber bei einem Massenprodukt wie einem Verteiltransformator kann man natürlich nicht genauso viel Aufwand bei der Bewertung betrieben, wie bei einem Leistungstransformator. Je teurer ein Betriebsmittel, desto wichtiger ist das Wissen über seinen Zustand. Da lohnt sich die Investition in eine etwas umfangreichere Bewertung schnell, wenn ich danach weiß, dass ich den Transformator noch zehn Jahre im Netz lassen kann und nicht Geld in einen neuen investieren muss.
LINOSSIER: Aus Sicht des Netzbetreibers kann ich das nur bestätigen. Wir betreiben über 100 Transformatoren, da ist es für unsere strategische Planung sehr wichtig zu wissen, wann und ob wir einen vom Netz nehmen müssen, oder ob nicht auch andere Maßnahmen sinnvoll sind. Vielleicht reicht es ja schon, nur den Motorantrieb zu erneuern, um die Lebenszeit zu verlängern.
Warum hat die Zustandsbewertung in den letzten Jahren so an Bedeutung gewonnen?

LINOSSIER: Ein Großteil unserer Flotte stammt aus den 50er- und 60er-Jahren und obwohl sie bis heute sehr zuverlässig sind, machen wir uns Gedanken über das Alterungsverhalten. Die Frage, wie lange sie noch halten, ist jetzt, vor dem Hintergrund der Energiewende, erheblich wichtiger geworden. Besonders wir Verteilnetzbetreiber stehen da vor enormen Herausforderungen. Viele der dezentralen Einspeisungen gelangen in unsere Netze. Das Thema E‑Mobilität kommt noch hinzu. Das bringt ganz andere Belastungen für unsere Transformatoren mit sich. Und auch die Netzstrukturen müssen wir überdenken. Das können wir aber nur dann sinnvoll machen, wenn wir den Zustand unserer Betriebsmittel gut kennen.
ZDRALLEK: Wie der RNG geht es den Netzbetreibern auf der ganzen Welt: Die Transformatorenflotten werden immer älter. Der Kostendruck ist heute, eben auch weil die Energiewende viele Investitionen erfordert, einfach höher. Und da will man die Betriebsmittel möglichst lange nutzen. Auf internationalen Konferenzen ist die Zustandsbewertung neben dem Netzaus- und ‑umbau für die Energiewende daher inzwischen ein ganz zentrales Thema. Die Branche steht insgesamt vor enormen Herausforderungen. In der Energieversorgungswelt ist in den letzten zehn Jahren mehr passiert, als in den hundert Jahren davor und in den nächsten zehn Jahren wird nochmal genauso viel passieren.
Welche Rolle hat die Zustandsbewertung in der Vergangenheit eingenommen?
ZDRALLEK: Lange Zeit war sie von untergeordneter Bedeutung. Früher verfolgten viele Betreiber die Strategie, die Transformatoren alle fünf Jahre zu warten und dann turnusmäßig nach 40 oder 50 Jahren einfach auszutauschen. Das spiegelt sich auch in der Forschung wider: Die hat sich in den letzten Jahren sehr darauf konzentriert, die Instandhaltungsstrategien zu optimieren. Und wenn es Zustandsbewertungen gab, dann beschränkten die sich häufig auf eine visuelle Inspektion. Und da steckt viel Subjektivität drin.
Inwieweit ist eine visuelle Inspektion subjektiv?
ZDRALLEK: Wir haben einmal einen Versuch für andere Betriebsmittel im Mittelspannungsnetz gemacht und zehn Monteure losgeschickt, die die gleiche Station bewerten sollten. Die Ergebnisse drifteten stark auseinander, die einen bewerteten die Anlage als sehr gut, andere attestierten jedoch genau das Gegenteil. Jeder lässt eben seinen eigenen Erfahrungsschatz einfließen und auch die Persönlichkeit spielt eine Rolle. Manche sind etwas pingeliger als andere. Zusammen mit der MR haben wir dann versucht, in die Bewertung mehr Objektivität reinzubringen.
Wie haben Sie das geschafft?
ZDRALLEK: Auch in unserer Systematik gibt es eine visuelle Inspektion, aber wir haben eine einheitliche Checkliste erarbeitet, anhand der die Techniker den Transformator begutachten und zum Beispiel prüfen, ob an bestimmten Stellen Öl austritt. Außerdem verwenden wir einen kleinen Trick, den wir von den Soziologen gelernt haben: Wir geben den Bewertenden eine gerade Zahl von Noten, in unserem Falle von eins, für sehr gut, bis vier, für sehr schlecht. Bei einer ungeraden Anzahl von Bewertungsmöglichkeiten tendieren Menschen dazu, den mittleren Wert zu nehmen. Mit einer geraden Zahl zwingt man sie, eine Entscheidung zu treffen. Und dann gibt es natürlich noch zahlreiche Messungen, wie Ölanalysen oder dynamische Widerstandsmessungen, die wir durchführen. Die Messungen tragen ganz wesentlich zur Objektivität bei.
Was ist das Besondere an der Methode, die Sie gemeinsam mit MR entwickelt haben?

ZDRALLEK: Neu ist, dass wir den Zustand des Transformators aus zwei Perspektiven bewerten. Mit der einen können wir Aussagen über das Ausfallrisiko treffen, das ist vor allem auf kürzere und mittlere Sicht wichtig. Die andere bewertet den Transformator langfristiger und zielt auf seine Lebensdauer ab. Für beide Perspektiven gewichten wir die untersuchten Parameter mit unserem Algorithmus unterschiedlich.
LINOSSIER: Beide Ansätze entsprechen genau der Sichtweise, die wir im strategischen Assetmanagement auf unsere Transformatorenflotte haben. Wie fast alle Netzbetreiber haben wir ein Budget für Instandhaltungstätigkeiten und eines für Investitionen. Durch die Kurzfrist- und Langfristkomponente haben wir daher ein ideales Instrument für die Ausrichtung unserer Wartungs- und Erneuerungsstrategie. Bestehende Verfahren zur Zustandsbewertung waren immer eindimensional und damit zu ungenau. Ein weiterer Vorteil der neuen Systematik ist, dass sie Transparenz schafft. Wenn beispielsweise ein Transformator eine schlechte Note bekommt, können wir ganz genau nachvollziehen, welche Komponente oder welcher Messwert zu diesem Ergebnis geführt hat. Daraus können wir leichter Maßnahmen ableiten, denn jetzt wissen wir, ob Instandhaltungsmaßnahmen ausreichen oder ob wir doch erneuern müssen.
Inwieweit konnten Sie vom Know-how von MR profitieren?
LINOSSIER: In allen unseren Transformatoren stecken Laststufenschalter von MR. Über die Jahre sind da viele unterschiedliche Modelle verbaut worden, die MR natürlich ganz genau kennt. Die Erfahrung der MR-Experten im Themenfeld Transformatoren, das Montoring-Know-how und die Verfügbarkeit moderner Infrastruktur sind sehr gute Voraussetzungen um eine ganzheitliche Lösung anzubieten. MR hat ein Labor für Ölanalysen, die passenden IT-Lösungen für solche Methoden und auch die entsprechende Sensorik im Portfolio.
ZDRALLEK: Wir Forscher haben zwar ein fundiertes Wissen darüber, wie eine Bewertungssystematik erstellt wird. Aber gerade im Bereich der Leistungstransformatoren konnten wir von MR viel lernen. Es gab so manche Messmethode, die wir noch nicht kannten. Hinzu kommt noch, dass man auch viel Mist messen kann. Eine thermografische Untersuchung oder eine Ölprobeentnahme kann nicht jeder korrekt durchführen.
Was bedeuten die Ergebnisse für Ihre Transformatorenflotte? Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
LINOSSIER: Bisher haben wir in der Pilotstudie nur neun Transformatoren untersucht. Jetzt wollen wir die Methode auf die ganze Flotte anwenden. Damit wir den Zustand in Zukunft noch besser bewerten können, möchten wir verstärkt in die Digitalisierung investieren und uns Monitoringsysteme anschaffen. Wir haben ja eigentlich nicht viele historische Daten, die wir auswerten können, weil diese früher so nicht dokumentiert wurden. Wenn wir aber jetzt anfangen, kontinuierlich zu messen, haben wir in Zukunft noch mehr Datenmaterial für die Zustandsbewertung.
ZDRALLEK: Da bin ich auch schon sehr gespannt. Eigentlich wissen wir über das Alterungsverhalten von Transformatoren noch recht wenig. Je mehr Daten wir bekommen, desto bessere Aussagen können wir künftig treffen.