Das Leuchten der Zukunft

Wie sieht die Welt am 300. Geburtstag von MR aus? Eine elek­tri­sche Reise in die Zukunft.

Text: Geschäfts­führer Michael Rohde, Illus­tra­tion: Peter Bartels

In einem sind sich die Science-Fiction Schaf­fenden einig: Die Zukunft ist elek­trisch. Ob Mega­city, Raum­schiff oder Riesen­ro­boter — alles leuchtet, piept und pulsiert. Der Strom hierfür stammt je nach Fantasie aus fiktiven Dili­thi­um­kris­tallen, orbi­talen Solar­kol­lek­toren oder Materie-Anti­ma­terie-Reak­toren. Sci-Fi-Autoren lassen sich hier immer wieder etwas Neues einfallen. Worüber sie offenbar weniger gerne nach­denken, ist, wie der Strom von Punkt A nach B gelangt. Die sauberste Methode der Ener­gie­ver­wen­dung wird die Welt aber nur dann voran­bringen, wenn der Nutzer verläss­lich den Strom aus der Steck­dose zapfen kann. Doch genau das können wir mit heutigen Mitteln nicht garan­tieren, da die Netze noch nicht zukunfts­fähig sind. Was das bedeutet? Um das zu beant­worten, werfen auch wir einen Blick auf Verbrauch und Erzeu­gung.

Mehr, mehr, mehr!

Die Welt­be­völ­ke­rung wächst unauf­haltsam. In einigen Jahr­zehnten wird sie die zwei­stel­lige Milli­ar­den­grenze über­schritten haben. All diese Menschen benö­tigen Energie: für elek­tri­schen Strom, zum Kochen, für Mobi­lität sowie Wärme oder Kälte. Zu beinahe 80 Prozent sind fossile Ener­gie­träger heute die Primär­ener­gie­quellen. Wir verbrennen Dinge, mit den bekannten Folgen. Experten sind sich einig, dass die unver­zicht­bare Dekar­bo­ni­sie­rung nur durch rasche Elek­tri­fi­zie­rung erreicht werden kann. Durch diesen Shift und das Bevöl­ke­rungs­wachstum wird der abso­lute Bedarf an elek­tri­scher Energie steigen. Der wach­sende Bedarf pro Kopf wird für eine weitere Beschleu­ni­gung sorgen.

Die Welt­be­völ­ke­rung wächst, immer mehr Menschen werden in Mega­citys wohnen. Zum Leben, Arbeiten und Fort­be­wegen brau­chen sie: viel Strom. (© Peter Bartels)

Das gilt auch in den reifen Volks­wirt­schaften, obwohl die Tech­no­logie immer ener­gie­ef­fi­zi­enter wird: Devices führen eben schlicht zu noch mehr Devices. Viele kleine, sich läppernde Ener­gie­fresser sind inte­graler Bestand­teil des Smart Homes. Von den notwen­digen Server­farmen, die das Land pflas­tern werden, ganz zu schweigen. In den Schwel­len­län­dern steigt der Bedarf noch rascher. Statt über die unbe­zahl­bare Verbin­dung von Leitungen zu einem Strom­netz werden entle­gene Regionen die Elek­tri­fi­zie­rung über Off-Grid-Lösungen voran­treiben, die aus kombi­nierten erneu­er­baren Quellen gespeist werden. Mit dem Strom kommen Licht und Zugang zum Internet – laut Sozio­logen die wesent­liche Voraus­set­zung für gesell­schaft­liche Entwick­lung durch Bildung in diesen Regionen.

Abseits der entle­genen Gebiete wird der globale Trend der Urba­ni­sie­rung zu großen Ballungs­räumen führen – geschätzt zwei Drittel der Welt­be­völ­ke­rung werden 2035 in Städten leben. Eine Infra­struktur für Cluster mit 30 Millionen Einwoh­nern und mehr ist ohne umfas­sende Elek­tri­fi­zie­rung undenkbar. Wer zur Arbeit gelangen möchte, braust dank fort­ge­schrit­tener Batte­rie­technik mit dem auto­nomen E‑Taxi. Die Gene­ra­tion danach viel­leicht im E‑Kopter. Wir haben also verstanden: Dekar­bo­ni­sie­rung geht nur mit umfas­sender Elek­tri­fi­zie­rung. Für die Strom­erzeu­gung wird aktuell nur ein knappes Viertel des welt­weiten primären Ener­gie­ver­brauchs benö­tigt. Über 75 Prozent des Stroms wird dabei immer noch aus fossilen Quellen erzeugt. Wenn also aus Sicht der Experten „alles elek­trisch“ werden soll: Ist das dann eine gigan­ti­sche, unlös­bare globale Aufgabe? Keines­wegs – weil die Elek­tri­fi­zie­rung den größten Raum für Optionen zwischen zentral und dezen­tral und auch bei der Konver­sion zwischen Ener­gie­formen („Power-to‑X“) bietet.

Eins für alle oder alle für alle?

Heute haben wir in den west­li­chen Indus­trie­na­tionen und auch in den aufstre­benden Ländern wie Indien oder China und in Südost­asien meist fossile Groß­kraft­werke mit großen rotie­renden Turbinen und Gene­ra­toren, die in nicht allzu großer Entfer­nung von den Last­zen­tren bezie­hungs­weise von­einander (quasi regional-zentral) gebaut wurden.

Dieser Ansatz hat mehrere Vorteile: Die großen rotie­renden Massen der zentralen Kraft­werke haben so viel Energie gespei­chert, dass sie stabi­li­sie­rend auf dauernde Verbrauchs­schwan­kungen und zuneh­mende Vola­ti­lität durch erneu­er­bare Einspei­sungen im Netz wirken – eine anfah­rende U‑Bahn bringt das Netz nicht zum Wackeln. Große Leitung­en für weit­räu­mige Strom­über­tra­gung sind nicht erfor­der­lich. Durch die rela­tive Nähe sind hohe Resi­lienz und Verfüg­bar­keit des Gesamt­sys­tems gegeben.

„Statt Dinge zu verbrennen, wird der Mensch von morgen vor allem aufladen. Der Strom dazu sollte sauber sein, weil es sonst mit der Erde schnell zu Ende ginge.“

Will man für die Zukunft so etwas wie Lager bilden, dann wären es, grob gesagt, zwei: die zentrale und die dezen­trale Lösung. Erstere setzt auf die Fort­set­zung einer Erzeu­gung in zuneh­mend rege­ne­rativ gespeisten Groß­kraft­werken. Das gibt es heute schon und heißt Offshore­wind­park, PV-Groß­kraft­werk oder Hydro­kraft­werk. Diese zentralen rege­ne­ra­tiven Ansätze setzen ein über­re­gio­nales „Super­grid“ hoher Über­tra­gungs­ka­pa­zität (und damit auch poten­ziell hoher Verwund­bar­keit) zum Ausgleich der Vola­ti­lität rege­ne­ra­tiver Quellen voraus. Und für den Wegfall der „Inertia“ aus den großen rotie­renden Massen müssen gleich­falls Lösungen gefunden werden. Das ist so unmög­lich nicht, wird doch zum Beispiel der Gene­rator-Satz des still­ge­legten Kern­kraft­werks Biblis als „rotie­render Phasen­schieber“ genau für diese Zwecke genutzt.

Dezen­trale Netze verlangen mehr Ener­gie­spei­cher. Millionen von Autos über­nehmen in Zukunft diese Aufgabe. (© Peter Bartels)

Das zentrale Solar­kraft­werk im Erdorbit ist wiederum in 150 Jahren wahr­schein­lich noch keine Realität. Aber warum sollten unsere Kindes­kinder – die über unsere heutigen Ansätze viel­leicht nur milde lächeln werden – keine neuen Lösungen finden? Und wenn in 150.000 Jahren die letzte Niete an der Dyson-Sphäre um unsere Sonne gesetzt wird, dann könnten wirk­lich sehr viele Probleme gelöst sein.

Wer die eine, zentrale Lösung für unwahr­schein­lich hält, der ist mögli­cher­weise ein Anhänger der dezen­tralen Lösung: Viele kleine rege­ne­ra­tive Erzeuger gene­rieren Strom, nehmen sich ihren Teil und schi­cken den Rest ins Netz, um das Defizit eines anderen auszu­glei­chen. Viel­leicht ist in 150 Jahren jeder Zenti­meter Dach­fläche von Hoch­leis­tungs­pho­to­vol­ta­ik­an­lagen bedeckt, damit jeder jedem helfen kann. Autark werden die Mega­citys damit nicht. Sie brau­chen eine „Nabel­schnur“ zur Verbin­dung mit großen Ener­gie­quellen aus dem Netz.

Chinas Regie­rung träumt in diesem Zusam­men­hang schon heute von einem globalen Netz, mit dem Strom welt­weit verschiebbar wird. Neben der Tech­no­logie hierfür braucht die dezen­trale Lösung noch bessere Spei­cher­mög­lich­keiten als heute. „Power-to-X-Lösungen“ etwa – riesige Kavernen, in denen Wasser­stoff oder Methan lagert, zuvor in mehreren Stufen aus Wind- oder Solar­strom erzeugt und im Bedarfs­fall klima­neu­tral im Kraft­werk oder mobil verbrannt.

Bildungs­auf­trag für die Netze

Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem wir über den Strom­trans­port spre­chen müssen, der von der Science-Fiction so schänd­lich ausge­spart wird. Egal ob zentral oder dezen­tral: Irgendwie muss die gigan­tisch gestie­gene Menge Strom im Jahr 2168 zum Verbrau­cher gelangen. Und die oft beschwo­renen Analo­gien vom draht­ge­bun­denen Telefon zur breit­ban­digen Funk­über­tra­gung als Hand­lungs­muster für eine zukünftig draht­lose Strom­über­tra­gung sind zwar nicht Sci-Fi, bestehen aber oft aus ganz einfa­chen physi­ka­li­schen Gründen den Reali­täts­test nicht.

Von einem Solar­kraft­werk in geo­stationärer Umlauf­bahn könnte man viel­leicht schon heute die Energie per Mikro­wel­len­strahl auf die Erde schi­cken – aller­dings kann man allem Getier oder Gerät nur viel Glück bei der Querung dieses Strahls wünschen. Physi­ka­lisch ähnlich kapri­ziös ist die induk­tive Über­brü­ckung großer Abstände. Vom Kabel werden wir so schnell nicht abkommen, zumal die gesamte instal­lierte Basis nicht einfach „wegd­is­rup­tiert“ werden kann.

Die Netze werden sich aber trotzdem verän­dern, vor allem, was die Lösungen zum Grid-Manage­ment und State-Assess­ment angeht. Hier warten riesige Heraus­for­de­rungen auf die Netz­be­treiber und damit auch auf Hersteller wie MR. Wenn sich in einer dezen­tralen Zukunft das Netz ausdif­fe­ren­ziert in Mikro­grids für einzelne Stadt­teile bis hin zu Nano­grids, die viel­leicht nur noch einen Haus­halt versorgen, verlangt das eine neue Denk­weise.

Ob in 150 Jahren Sonnen­kol­lek­toren tatsäch­lich im All den Strom produ­zieren, ist noch nicht gewiss. Aber neue Ansätze zur Ener­gie­ge­win­nung braucht es sicher­lich. (© Peter Bartels)

Die heute noch sehr zentral ange­legte Steue­rung der Strom­erzeugung und ‑vertei­lung ist damit passé, denn die Anfor­de­rungen an das Grid-Manage­ment durch die Dezen­tra­li­sie­rung steigen expo­nen­ziell. Der Grid-Operator muss über unzäh­lige Dinge die Über­sicht bewahren, die alle in Wech­sel­wir­kung zuein­ander stehen. Welcher Ener­gie­be­darf ist morgen zu erwarten? Wie wird die Wetter­lage aussehen? Wie voll sind meine Spei­cher? Und, und, und. In seiner Gesamt­heit eine Daten­menge, für die schon ein Quan­ten­com­puter an der Cloud hängen müsste. Aber ob wir den in 150 Jahren haben? Deswegen müssen hier die rich­tigen Soft­ware­lö­sungen her.

Sicher ist sicher

Beide Lösungs­ele­mente bieten auch eigene Heraus­for­de­rungen, was die Resi­lienz angeht. Gerade eine zentrale Infra­struktur wie die großen „Nabel­schnüre“ muss sicher gegen Angriffe gemacht werden können. Stärker dezen­trale Lösungen hätten den Vorteil, dass sie per se eigen­sta­bi­lere kyber­ne­ti­sche Systeme sein können. Wird ein Teil­chen ausge­schaltet, läuft das Gesamt­system weiter. Nach einem Angriff würde trotzdem der Verkehr laufen, im Kran­ken­haus-OP das Licht brennen und wahr­schein­lich sogar auf einem Groß­teil der Fern­seher (oder in 150 Jahren viel­leicht implan­tierten Video­schnitt­stellen am Sehnerv) Netflix 4‑D weiter­laufen.

„Der Wandel in der Ener­gie­branche wird radikal sein. Statt funk­tio­nale Hard­ware wird es vermehrt um intel­li­gente Soft­ware gehen.“

Im Hinter­grund wird der Fehler iden­ti­fi­ziert und behoben und schnell wieder alles auf volle Leis­tung gebracht. Aber: Komplexe, vernetzte, dezen­trale Systeme brau­chen eine ausge­reifte, intel­li­gente System­ar­chi­tektur. Für das halb­wegs gelun­gene, halb­wegs resi­li­ente kyber­ne­ti­sche System Mensch hat die Evolu­tion ein paar Millionen Jahre gebraucht. Immerhin atmen wir nach einem Knock-out weiter, dann kommen der Reboot und der Kopf­schmerz.

Wie fühlt sich Disrup­tion an?

Der Wandel wird auch in der Ener­gie­branche radikal sein, weil uns die Dekar­bo­ni­sie­rung zu mehr Dezen­tra­li­sie­rung zwingt. Das verän­dert die Hard­ware der heutigen Arbeits­pferde, der „Aktoren“, und erfor­dert sehr viel mehr Intel­li­genz bei der Netz- und System­füh­rung mit Sensoren, Kommu­ni­ka­tion und Soft­ware. Leis­tungs­elek­tro­ni­sche Lösungen werden langsam die konven­tio­nellen Trans­for­ma­toren ersetzen. Darum werden sich die Produkte von MR in 50 Jahren drehen, das wissen wir schon jetzt. Erfolg­reiche Unter­nehmen unter­nehmen, statt zu unter­lassen, deshalb stecken im Wandel große Chancen.

Mut statt Zukunfts­angst ist die Richt­schnur. Was dann in 100 Jahren ansteht, das hängt davon ab, wie sich die Welt bis dahin weiter­ge­dreht hat. Und so gigan­tisch dieser Wandel für die Netz­be­treiber und ihre Liefe­ranten auch ist: Der Strom verbrau­chende Otto Normal­bürger wird ihn in den reifen Volks­wirt­schaften nicht so stark zu spüren bekommen, wenn die Politik endlich die rich­tigen Rahmen­be­din­gungen für eine umfas­sende Dekar­bo­ni­sie­rungs-Ener­gie­wende schafft. Span­nender wird es sich wahr­schein­lich in den Schwel­len­län­dern und Mega­citys anfühlen – mit einer radikal verän­derten Energie-Zukunft, die aus heutiger Sicht als Science-Fiction erscheint. Freuen wir uns auf die Zukunft!


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