Wie die Maschinenfabrik Reinhausen zum Stufenschalter kam. Frei erzählt nach einer wahren Begebenheit.
Regensburg, 4. November 1929, zehn Uhr am Morgen
„Das darf doch nicht wahr sein, dass das niemand hinkriegt!“ Dr. Bernhard Jansen zerknüllte den Brief der Regensburger Schlosserei Niekisch und warf ihn in die Ecke. Das Zahnrad lag immer noch auf seinem Tisch. Ein Zahnrad mit einer Bohrung. Der junge Ingenieur aus Hannover starrte es wütend an.
Diese verflixte Bohrung! Warum konnte das niemand bauen?
Jansen stand auf, lief zur Tür und steckte den Kopf ins Vorzimmer.
„Fräulein Egelhofer, wären Sie so reizend und würden mir einen Tee zubereiten?“
„Sehr gerne, Herr Direktor. Ist Ihnen etwa unwohl?“
„Ach, wissen Sie, heute Morgen kam die Absage vom Niekisch. Das ist jetzt schon die sechste. Ich mache mir Sorgen, dass wir diesen Prototyp einfach nicht bauen können. Auf dem Papier ist alles klar. Aber finden Sie hier in der Gegend mal einen fähigen Schlosser! Nun gut, ich will Sie damit nicht belasten. Kamille, mit viel Zucker, bitte.“
Jansen schloss die Tür wieder und trat ans Fenster. Auf der Straße herrschte Hochbetrieb. Pferdefuhrwerke mit Bauholz und Apfelkisten rumpelten an Jansen vorbei. Aus den Augenwinkeln sah er das Automobil von Bürgermeister Hipp um die Ecke biegen. Es war das einzige grüne in ganz Regensburg. Dann blieb sein Blick an der Rußwolke aus dem Schlot der Bayerischen Zuckerfabrik hängen, der größten Fabrik hier. Auch sie hungerte nach Jansens Strom.
Jansen war technischer Direktor der Oberpfalzwerke, die Regensburg und das Umland mit Strom belieferten. Sein Ruf als begabter, ja sogar genialer Erfinder hatte ihm geholfen, auf diesen Vorstandsposten in Bayern zu gelangen, obwohl er gerade einmal 29 Jahre alt gewesen war. Das war jetzt etwas mehr als ein Jahr her. Bei seiner Bewerbung hatte er damit beeindruckt, dass er das Patent auf einen Stufenschalter hielt, der unter Volllast Transformatoren schalten konnte, ohne dabei die Stromzufuhr zu unterbrechen. Die mögliche Lösung für ein immer dringender werdendes Problem: Wie kommt der Strom in gleichbleibender Spannung von den Kraftwerken zu den Haushalten? Jetzt, wo immer mehr Fabriken und Betriebe mit Elektrizität produzierten, gab es auf einmal große Verbraucher, die das Stromnetz durcheinanderwirbelten. Wenn sie anliefen oder abschalteten, fiel der Strom aus. Jansens Idee könnte das ändern.
Aber was nützte ihm ein Patent, wenn er den Schalter nicht gebaut kriegte? Jansen kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um die restliche Korrespondenz von gestern durchzusehen. Der Tag war trübe. Jansen schaltete seine Tischlampe an.
Alle wollen heute Strom. Und seine Aufgabe als Direktor der Oberpfalzwerke war es, ihnen zu geben, wonach sie sich sehnten.
Eigentlich nicht nur als Direktor. Elektrizität für alle ist die Zukunft. Davon ist der Ingenieur schon seit Jahren überzeugt. Aber nun schien es, als ende der Weg dorthin in einer Sackgasse. Technisch ging es nicht weiter. Niemand war in der Lage zu sagen, wie man die Netze ausbauen konnte, ohne die Kontrolle über sie zu verlieren. Und Jansen, der glaubte, eine Antwort zu wissen, scheiterte gerade an einem dämlichen Zahnrad.
Seine Bürotür ging auf. Die Egelhofer mit dem Tee, im Schlepptau sein Ingenieur Landauer. An seiner Miene konnte Jansen erkennen, dass auch er keine guten Nachrichten hatte.
„Danke, Fräulein Egelhofer. Mein lieber Landauer, was gibt’s?“
„Guten Morgen, Herr Direktor. Die AEG schreibt. Hier.“
Landauer legte ihm ein geöffnetes Kuvert hin und blieb mit verschränkten Armen vor dem Schreibtisch stehen. Wollte er jetzt etwa dabei zusehen, wie Jansen den Brief las?
Offenbar war es so. Die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft in der Reichshauptstadt war Jansens wichtigster Partner. Schon vor einiger Zeit hatte er mit ihr einen lukrativen Lizenzvertrag geschlossen. Die AEG wollte seinen Stufenschalter im großen Stile bauen und in ihre Transformatoren stecken. Wenn das gelänge, wäre Jansen ein gemachter Mann. Doch vorher war er verpflichtet, einen Prototyp zu liefern, der bewies, dass sein Schalter hielt, was er versprach. Jansen las.
Hochverehrteste Herren!
Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom III. Oktober 1929 erlauben wir uns, Sie erneut um eine Auskunft zu bitten: Wann dürfen wir mit der Lieferung des Lizenzmodells „Stufenschalter“ nach Reichspatentamt No. 467560, 474613 sowie 496564 rechnen? Sie werden verzeihen, dass wir Ihre verbindliche Zusage sobald als möglich erwarten.
Hochachtungsvoll, Dr. Konrad Blenkle
„Jetzt sitzen wir in der Tinte, Landauer. Die Berliner verlieren die Geduld.“
„Mit Verlaub, Herr Direktor, haben wir denn schon alles versucht, was in unserer Macht steht?“
„Was meinen Sie denn, was ich hier die ganze Zeit hindurch tue? Zeitung lesen? Ich finde einfach keine Schlosserei, die mir dieses vermaledeite Zahnrad herstellen kann, geschweige denn den ganzen Rest!“ Jansen sackte in sich zusammen und schüttelte den Kopf. „Es ist geradezu lächerlich.“
„Ich wüsste vielleicht noch jemanden: den Kare Scheubeck aus Reinhausen, ein Freund von mir.“
„Kare?“
„Oskar eigentlich. Der hat mit seinem Bruder eine Schlosserei und baut alles Mögliche. Pfiffiger Bursche.“
„Nun gut, warum auch nicht? Im schlimmsten Falle ist er halt der Siebte, der’s nicht hinbekommt. Ich geh da persönlich hin. Kündigen Sie mich bei Ihrem Freund an. Morgen früh neun Uhr.“
„Wird erledigt, Herr Direktor.“
Reinhausen, 5. November 1929, halb neun am Morgen
Oskar Scheubeck fasste sich an die Schläfen. Dieses Kopfweh machte ihn verrückt. Seit Tagen konnte er kaum noch schlafen. Mal schauen, was zuerst kommen würde, die Pleite oder eine erholsame Nacht.
Scheubeck kannte sich weder mit Politik noch mit Nationalökonomie besonders gut aus, aber auch er begriff, dass sich vor ein paar Tagen etwas Entscheidendes ereignet hatte: An der Börse von Neuyork hatte es gekracht. Unter normalen Umständen konnte ihm das ja gleichgültig sein, aber die Umstände waren hier schon lange nicht mehr normal. Beinahe jährlich wechselte die Regierung in Berlin, ständig gab es Streit wegen der Reparationszahlungen an die Sieger des großen Weltkriegs. Gerade ging‘s um diesen neuen Reparationsplan. Immer öfter marschierten die Nazis durch die Gassen und riefen ihre Parolen. Neulich sogar die Kommunisten – die hatten hier im katholischen Regensburg bisher noch nie einen Fuß auf die Erde bekommen. Das musste wohl an den vielen Arbeitslosen liegen. Inzwischen kam beinahe jeden Tag einer zu Scheubeck in die Werkstatt und fragte, ob er nicht irgendeine Arbeit für ihn habe. Fast immer sagte Scheubeck Nein.
Und jetzt also noch der Börsenkrach im fernen Amerika. Scheubeck wusste, dass das viele Geld der Amerikaner das Deutsche Reich wirtschaftlich am Laufen hielt. Wenn die jetzt selber Probleme kriegen, dann gnade uns Gott.
„Heute kommt doch der Jansen von den Oberpfalzwerken, stimmt’s?“
Richards Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Jaja, der müsste bald da sein.“
„Kümmerst du dich um ihn? Ich muss gleich mit Vater zur Bank wegen der Stundung.“
„Mach ich.“
„Oskar, hör zu. Die Lage ist ernst. Selbst wenn der Herr von der Bank uns heute freundlichst entgegenkommt, haben wir nur noch eine Galgenfrist. Wir brauchen was Neues. Etwas, das funktioniert, und zwar am besten über eine längere Zeit hinweg. Vielleicht kann der Jansen uns ja so was geben. Sei höflich und zuvorkommend, ja? Und denk dran: Doktor Jansen. Doktor, vergiss das nicht. Den Preußen ist das wichtig.“
Richard warf seinen Mantel um und ging aus der Werkstatt in den morgendlichen Nieselregen. Oskar Scheubeck nahm einen Schluck Bohnenkaffee aus seinem Becher. Der einzige Luxus, den sie sich zurzeit noch gönnten.
Außer seinem Bruder Richard und ihm selbst arbeiteten nur noch zehn Leute in der einst so stolzen Maschinenfabrik Reinhausen, die ihrem Vater gehörte. Bis vor Kurzem hatten sie noch Spaltgattersägen hergestellt, daher rührte auch der Name „Maschinenfabrik“. Aber seit Ende des Krieges wurde das Holzgeschäft weniger und die neue, deutlich schnellere Bandsäge hatte ihrem Modell den Rang abgelaufen. Im Frühjahr hatten sie dann aufgegeben und die Produktion eingestellt. Seither machten die Schlosser so ziemlich alles, womit sich ein bisschen Geld verdienen ließ: Fahrradteile, Armaturen, Fensterrahmen für Eisenbahnwagen. Im Sommer hatten sie alles auf eine Karte gesetzt und ein kleines Flugzeug gebaut. Jeder Tüftler, der was auf sich hielt, baute gerade Flugzeuge. Schließlich war Lindbergh erst vor Kurzem über den Atlantik geflogen. Aber der Prototyp der Scheubeck-Brüder war abgestürzt und jetzt waren auch die letzten Ersparnisse dahin.
Scheubeck nahm noch einmal einen Schluck. Diese höllischen Kopfschmerzen!
Es klopfte an der Tür.
„Treten Sie ein, bitte!“
Ein hochgewachsener Mann in einem feinen Anzug betrat die Werkstatt. Ziemlich jung für einen Direktor.
„Sind Sie Oskar Scheubeck? Direktor Jansen von den Oberpfalzwerken. Der Herr Ingenieur Landauer hat Sie mir empfohlen.“
„Ja, er war gestern da. Kommen Sie näher, Herr Jansen. Womit kann ich dienen? Es wäre mir eine Ehre!“
Teufel, er hatte den „Doktor“ vergessen! Richard würde aus der Haut fahren.
Jansen zog ein paar Papiere aus der Tasche und breitete sie auf der Werkbank aus. Scheubeck sah auf lauter komplizierte Konstruktionszeichnungen.
„Es ist dieses hier.“ Jansen deutete auf ein Zahnrad. „Im Grunde ganz einfach. Können Sie mir dieses Zahnrad bauen, genau nach den Maßgaben? Ich bräuchte es so bald, wie es nur irgendwie geht. Wichtig ist, dass Sie sich exakt an die Vorgaben halten. Ich wiederhole: exakt!“
„Wofür ist denn das Teil?“
„Ich baue damit einen Stufenschalter für Transformatoren.“
„Nie gehört.“
„Das müssen Sie auch nicht. Hauptsache, Sie bauen mir dieses Zahnrad. Kann ich mich auf Sie verlassen?“
„Selbstverständlich, Herr Doktor!“
„Gut. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie es geschafft haben. Guten Tag, mein Herr.“
„Auf Wiederschaun, Herr Doktor!“
Weg war er. Komischer Bursche. Scheubeck sah sich die Zeichnung in Ruhe an. Diese Kopfschmerzen!
Derselbe Tag, zehn Uhr am Morgen
Franz Xaver Bauer pfiff eine Melodie aus dem „Zigeunerbaron“. Seit der junge Lehrling am Wochenende im Stadtsaal bei der Strauß-Operette gewesen war, ging sie ihm im Kopf herum. Die Melodie und Ottilie. Was für ein Abend! Nach der Musik hatten sie noch einen langen Nachtspaziergang zu Ottilies Haus gemacht. Trotz der Kälte war ihm ganz warm in der Brust gewesen.
Endlich mal wieder was Schönes! Hier in der Werkstatt lachte man kaum noch. Seit das Flugzeug der Scheubecks abgestürzt war, liefen die Meister nur noch mit langen Gesichtern durch die Gegend. Bauer befürchtete, dass es mit der Maschinenfabrik zu Ende ging. Ein Kollege nach dem anderen zog woanders hin. Einige blieben in der Gegend, andere gingen sogar nach München. Dort gebe es noch viel Arbeit für fleißige Schlosser, hieß es. Sollte er ihnen folgen? Aber was wäre dann mit Ottilie?
Xaver spannte sein Werkstück ein und fing an zu feilen. Schlimm wäre das, wenn die Maschinenfabrik zusperren würde! Seine Mutter hatte sich so gefreut, dass Xaver hier eine gute Lehre gefunden hatte. Metall – das werde man immer brauchen! Xavers Vater war damals im Krieg geblieben, irgendwo in Frankreich lagen seine Knochen. Xaver konnte sich kaum an ihn entsinnen. Im Wohnzimmer hing ein Foto von ihm. Mutter schmückte es immer noch jede Woche mit frischen Blumen. Auf dem Bild war sein Vater so alt wie Xaver heute. Mutter war fast immer weg gewesen, in der Wäscherei. Heute konnte Xaver sie endlich unterstützen mit seinem Lehrlingslohn.
„Xaverl, komm mal her.“ Der junge Scheubeck rief ihn.
„Jawoll, Herr Oskar.“ Er ging zu Oskar Scheubecks Werkbank, wo dieser auf ein paar Blätter starrte. Der Chef sah heute noch verbissener drein als die letzten Tage.
„Schau, Xaverl, wir haben einen neuen Auftrag. Der Direktor vom Kraftwerk will, dass wir ihm dieses Zahnrad bauen, und er hat es eilig. Überleg dir mal, wie du so etwas bauen würdest.“
„Jawoll, Herr Oskar. Soll ich es alleine tun?“
„Ja, meine Kopfschmerzen bringen mich noch ins Grab. Ich werde mich oben eine Weile hinlegen. Der Richard kommt gleich von der Bank zurück. Den kannst du fragen, wenn du nicht weiterkommst.“
„In Ordnung, Herr Oskar.“
„Noch was, Xaverl. Gib dir Mühe. Es kann sein, dass der Direktor uns danach noch weitere Aufträge gibt. Du weißt, wie dringend wir das brauchen. Später erzählst du mir, was du dir überlegt hast, ja?“
„Jawoll.“
Der junge Scheubeck klopfte ihm auf die Schulter und ging dann Richtung Treppe. Xaver Bauer schaute auf die Zeichnung. Ganz schön kompliziert. Er konnte kaum die handgeschriebenen Maße entziffern. Zwanzig Minuten stand er da. Dann beschloss er, einfach zu beginnen.
18 Uhr am Abend
Bernhard Jansen klopfte an die Werkstatttür. Landauer hatte ihm gesagt, die Scheubecks hätten das Zahnrad schon fertig. Konnte das stimmen?
„Herein, bitte!“ Jansen trat ein.
„Guten Tag, meine Herren!“
Jansen sah Oskar Scheubeck an der Werkbank stehen, neben ihm ein junger Bursche mit Mütze auf dem Kopf. Auf der Bank lag ein Zahnrad. Sein Zahnrad. Jansen ging sofort darauf zu und nahm es in die Hand.
„Potz Blitz! Das sieht wirklich gut aus!“
Jansen wog das Teil in seinen Händen und begutachtete es von allen Seiten. Er zog Zollstock und Schieblehre aus seiner Tasche und maß alle wichtigen Längen nach. Es stimmte genau.
„Und das haben Sie an nur einem Tag hinbekommen, Herr Scheubeck? Donnerwetter!“
„Ja, Herr Doktor. Das heißt nein. Ich war’s nicht, sondern mein Lehrlingsbursche hier, der Xaverl. Eigentlich wollte ich nur, dass er sich die Sache mal überlegt, aber dann hat er’s gleich gebaut und mir soeben gezeigt.“
„Wie bitte? Sie haben an einem Tag gebaut, was sechs Schlossereien in Regensburg in Wochen nicht hinbekommen haben! Wie haben Sie das denn geschafft?“
Der Bursche wurde rot im Gesicht.
„Ich kann’s gar nicht sagen, Herr Doktor. Ich hab einfach angefangen und dann … Ich kann’s gar nicht sagen.“
Jansen musste lachen.
„Sie sind mir so ein Teufelskerl, Xaver!“
Scheubeck sah seinen Burschen grinsend an. Der Stolz des Meisters auf seinen fähigen Lehrling. Zurecht. Die Leistung war wirklich ungewöhnlich.
Jansen streckte Xaver die Hand hin. Der ergriff sie und errötete wieder.
„Gut gemacht, Junge!“
Dann reichte Jansen auch Scheubeck die Hand.
„Wissen Sie was, Herr Scheubeck? Wenn bei Ihnen schon die Lehrlinge gescheiter sind als die Meister anderswo, dann habe ich wohl meine Schlosserei gefunden. Ich möchte, dass Sie für mich weitere Teile bauen. Sind Sie einverstanden?“
„Mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor!“
„Hier habe ich noch mehr Zeichnungen.“ Jansen holte ein paar Blätter aus seiner Tasche und legte sie auf die Werkbank. Scheubeck stand links von ihm, der Lehrling rechts.
Jansen begann zu erklären.
„Also, das ist der Stufenschalter.“
— ENDE –