“Wir bauen gerade das Internet der Energie”

Zukunfts­for­scher Lars Thomsen erklärt die Netze der Zukunft und zeigt auf, warum die Ener­gie­wirt­schaft schnell handeln sollte.


Herr Thomsen, mal ange­nommen, ich hätte einen riesigen Haufen Geld auf dem Konto — was sollte ich damit machen?

Ich würde Ihnen raten, damit in die Ener­gie­wirt­schaft einzu­steigen, entweder mit einer cleveren Geschäfts­idee oder als Investor.

Aha. Warum?

Weil sich in der Ener­gie­wirt­schaft gerade einiges tut. Sie wird sich so schnell und so funda­mental verän­dern wie die letzten hundert Jahre nicht. Und wo sich Dinge verän­dern, gibt es massig Chancen für Leute, die die Zeichen der Zeit erkennen. Chancen, Geld zu verdienen.

Wieso verän­dert sich die Ener­gie­wirt­schaft denn über­haupt?

Wir sehen zwei große Trends. Beide ziehen wiederum einige Subtrends mit sich. Trend eins — und das wird jetzt niemanden groß über­ra­schen: Rege­ne­ra­tive Ener­gie­ge­win­nung boomt, ihr Anteil wird ständig weiter­wachsen. In 20 Jahren wird sie in fast allen Netzen über­wiegen. Trend zwei: Der Bedarf an Energie allge­mein wächst, beson­ders die Nach­frage nach Strom wird sich erhöhen. Und das nicht nur ein biss­chen: Wir erwarten, dass wir in 20 Jahren welt­weit doppelt so viel Strom verbrau­chen wie heute.

Schnermann

Doppelt so viel wie heute? Was ist mit den ganzen Versu­chen, ener­gie­ef­fi­zient zu produ­zieren und zu verbrau­chen — alles umsonst?

Dass wach­sender Strom­ver­brauch und immer höhere Ener­gie­ef­fi­zienz einander wider­spre­chen, ist ein schneller — und leider falscher — Schluss. Es ist nämlich vor allem eine Frage der Substi­tu­tion. Laut der Inter­na­tio­nalen Ener­gie­agentur verbrau­chen die Menschen derzeit rund ein Drittel ihrer Ener­gie­mittel zur Strom­erzeu­gung, ein weiteres Drittel für ihre Mobi­lität und das letzte Drittel zum Heizen und Kühlen. Achtung, wir spre­chen hier von allen Ener­gie­trä­gern: Öl, Gas, Holz, Kohle und so weiter.

„Die Ener­gie­wirt­schaft hat derzeit einen hohen Innovations­druck. Das ist sie nicht gewohnt.“

Der welt­weite Verkehr — Autos, Schiffe, Flug­zeuge — wird derzeit noch zu rund 95 Prozent fossil betrieben, Heizung und Kühlung zu rund 75 Prozent. Der fossile Anteil wird bei beiden weiter dras­tisch sinken — und durch Strom ersetzt. Autos, die derzeit mit Diesel fahren, fahren künftig mit Strom und so weiter. Allein dadurch wird sich der Strom­be­darf verdop­peln, da sind die prognos­ti­zierten Effekte durch Maßnahmen zur Ener­gie­ef­fi­zienz bereits einge­rechnet.

Und was macht Sie so sicher, dass der Anteil der rege­ne­ra­tiven Ener­gien dras­tisch wachsen wird?

Ach, vieles! Es gibt den poli­ti­schen Willen in den meisten Ländern. Die Klima­krise legt es uns nahe. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Sie müssen kein Umwelt­schützer sein, um auf Wind und Solar zu setzen. Rechnen können reicht schon. In den USA zum Beispiel, wo der Präsi­dent die letzten Jahre hindurch für „saubere Kohle“ warb, macht durch­schnitt­lich alle zwei Wochen ein Kohle­kraft­werk dicht. Und zwar für immer. Weil es sich für die Betreiber nicht mehr lohnt.

Und bei der Solar­energie haben wir preis­lich schon lange einen Schei­tel­punkt erreicht: Sie müssten schon ein biss­chen blöd sein, um auf ein neu errich­tetes Dach keine Foto­vol­ta­ik­zellen zu packen — egal, ob Sie im Jemen eine Hütte oder in der Schweiz ein Indus­trie­werk errichten. Der Zeit­raum des Return on Invest­ment beträgt in Europa und den USA etwa sechs bis acht Jahre. Verglei­chen Sie das mal mit dem Kapi­tal­markt: Dort entspricht das einer Verzin­sung von um die acht Prozent. Die Solar­an­lage zahlt sich selbst ab und produ­ziert während­dessen sauberen Strom für Sie.

Okay, mehr rege­ne­ra­tive Ener­gie­quellen, mehr Strom­be­darf also. Was heißt das für die Netze?

Wir bauen gerade das Internet der Energie. Damit meine ich ein atmendes Netz, das die Lasten erstens intel­li­gent verteilt und zwei­tens sich an der vola­tilen Verfüg­bar­keit ausrichtet.

Ich erkläre das kurz: Vola­ti­lität heißt einfach, dass nicht immer die Sonne scheint und der Wind weht. Bei mehr Wind- und Solar­kraft im Ener­giemix führt das also zu stär­keren Schwan­kungen bei der Einspei­sung. Das ist, denke ich, heute allge­mein bekannt. Intel­li­gent verteilen — das heißt, dafür zu sorgen, dass Über­lasten vermieden werden. Für beides bieten sich zwei Lösungs­wege an: Ener­gie­spei­cher und soge­nannte Smart Grids; das sind Geräte, die Verbrauchs­muster erkennen, sie vorher­sagen und darauf reagieren können.

Können Sie das bitte ausführen?

Gern. Atmende Netze ziehen die Energie dann ein, wenn sie verfügbar ist, spei­chern sie zwischen und atmen sie dann wieder aus, wenn die Energie gebraucht wird. Elek­tri­sche Autos werden hier gleich­zeitig das Problem und auch die Lösung sein. Denn wenn Sie sich ein E‑Auto anschaffen, dann verdop­peln Sie mit einem Schlag Ihren Strom­be­darf. Aber Sie verfügen dann plötz­lich auch über einen intel­li­gent steu­er­baren Ener­gie­spei­cher, die Batterie.

„Der Strom­verbrauch wird sich verdop­peln. Darum brau­chen wir intel­li­gent atmende Netze.“

Nehmen wir der Einfach­heit halber mal ein Einfa­mi­li­en­haus an, am besten ein Smart Home. Wenn jetzt alle abends nach Hause kommen, das Auto zum Laden einstöp­seln, das Licht anma­chen, den Fern­seher und den Herd einschalten — dann steigt der Strom­be­darf plötz­lich rasant. Tun das all Ihre Nach­barn auch, hält das das Netz nicht mehr aus.

Das Auto ist aber nicht blöd und könnte jetzt sagen: Ich lade mich erst später auf, wenn alle schlafen gegangen sind. Oder es kann sich tags­über — bei Sonnen­schein — aufladen und abends Strom aus seinem Spei­cher an das Smart Home abgeben und dadurch wiederum die Netze entlasten. Ich denke, dass es auch einen neuen Preis­me­cha­nismus geben wird, der dieses Verhalten unter­stützt.

Was für einen Preis­me­cha­nismus?

Wir werden bis auf Konsumenten­ebene hinab variable Strom­preis­ta­rife bekommen. Fast alle Waren­preise folgen einer Logik aus Angebot und Nach­frage. Ein Korb Erdbeeren kostet im Juni in Deutsch­land 99 Cent, weil es vor Ort massig davon gibt, im Winter 4,99 Euro, weil sie extra aus Marokko einge­flogen werden.

Würde man sie jetzt das ganze Jahr hindurch für 2,99 Euro anbieten, setzte das falsche Anreize: Im Winter flögen mehr Erdbeeren aus Marokko ein und im Sommer verschim­melt die deut­sche Ernte, weil sie den Leuten zu teuer ist. Beim Strom hingegen bezahlen Endver­brau­cher heute pro Kilo­watt­stunde, egal, wann sie sie abrufen. Bei rege­ne­rativ gewon­nenem Strom ist es aber wie mit den Erdbeeren: Wir haben immer entweder zu viel oder zu wenig. Das wird sich auch im Preis wider­spie­geln.

Intel­li­gente Steue­rung — das setzt ja auch eine Menge Soft­ware und womög­lich gar künst­liche Intel­li­genz voraus. Womit wird man denn in Zukunft in der Ener­gie­wirt­schaft das meiste Geld machen: mit Soft­ware oder mit Hard­ware?

Ich denke, beides werden profi­table Geschäfts­felder bleiben, auch die Netz­infrastruktur. Es gibt zwar schon lange die Vision von immer mehr autarken Ener­gie­ein­heiten — Häuser, Fabriken oder ganze Gewer­be­ge­biete. Das sehe ich skep­tisch. Ich denke, alle Verbrau­cher werden weiterhin auf ein Vertei­ler­netz­werk ange­wiesen sein, das von den klas­si­schen Versor­gern und Stadt­werken aufrecht­erhalten wird. Das ist auch schlicht die sinn­vollste Lösung. Aber eines ist klar: Die Ener­gie­branche hat gerade einen hohen Inno­va­ti­ons­druck. Das ist sie nicht gewohnt.

Schafft die Ener­gie­wirt­schaft das?

Gute Frage. Ich verfolge seit rund 20 Jahren die Diskus­sion über Smart Meter. Da sagt die Branche: Wir brau­chen 20 bis 30 Jahre, um das auszu­rollen. Vergleicht man das mit anderen Bran­chen, ist so ein State­ment — gelinde gesagt — unge­wöhn­lich. Wenn Sie sich allein die Verkaufs­zahlen der E‑Autos und Plug-in-Hybride anschauen, dann sind wir schon in 150 Wochen an dem Punkt, wo unsere Netze das nicht mehr abkönnen.

Das Problem werden wir nicht lösen, indem wir riesige Trans­for­ma­toren bauen, jede Straße aufbud­deln und die Leis­tungs­quer­schnitte verdop­peln. Das geht nur mit smarter Tech­no­logie, die die Last intel­li­gent verteilt. Jetzt sagt die Ener­gie­wirt­schaft: O Gott — da müssen wir in zwei, drei Jahren so weit sein mit neuen Produkten, Tech­no­lo­gien und Soft­ware! In dieser Situa­tion waren sie noch nie.

Könnte sich die Ener­gie­branche nicht einfach sperren und den Wandel hinaus­zö­gern?

Ja, in gewissem Rahmen könnte sie das. Der Markt ist regu­liert und erfor­dert hohe Start­in­ves­ti­tionen. Das schottet die Etablierten auf vielerlei Weise gegen Konkur­renz ab, vor allem auf der Hard­ware- und Infra­struk­tur­seite.

„Zum ersten Mal seit Jahr­zehnten werden sich Inves­ti­tionen rasch auszahlen.“

Es gibt jedoch zwei Gründe, warum ich glaube, dass die Branche dem Inno­va­ti­ons­druck trotzdem folgen wird. Erstens: Sie wird sich das wich­tige Geschäfts­feld der Soft­ware- und KI-Lösungen nicht entgehen lassen wollen. Hier stehen schon Firmen wie IBM oder Google in den Start­lö­chern.

Die Ener­gie­wirt­schaft hat aber immer noch die Chance, das selbst in die Hand zu nehmen, wenn sie sich jetzt anstrengt. Und zwei­tens, das scheint mir sogar noch wich­tiger: Zum ersten Mal seit vielen Jahr­zehnten ist die Ener­gie­wirt­schaft in einer Phase, in der sich Inves­ti­tionen in Inno­va­tionen tatsäch­lich rasch auszahlen. Das wird für genü­gend Bewe­gung sorgen.

Über welche Inno­va­tionen spre­chen wir konkret?

Neben der erwähnten Soft­ware: Lasten schalten, messen und regeln. Um- und Wech­sel­richter, Umspan­nungs­technik. Durch die Viel­zahl an neuen, dezen­tralen Ener­gie­quellen und Zwischen­spei­chern werden wir viel mehr solcher Systeme brau­chen als bisher.

Apropos dezen­trale Ener­gie­ge­win­nung: Geht der Trend dorthin?

Ja, aber nicht nur. Hier gibt es kein Schwarz-Weiß. Gleich­zeitig wird es auch große zentrale Ener­gie­quellen geben, zum Beispiel riesige Solar­parks am Äquator oder in der Wüste, wo die Sonne zuver­lässig scheint, oder große Offshore-Wind­parks. Hier kommen wir dann gleich zur nächsten großen Heraus­for­de­rung: dem Strom­trans­port über große Distanzen mittels Hoch­span­nungs-Gleich­strom-Über­tra­gung, der HGÜ. Da gibt es inter­es­sante Ideen.

Welche Ideen?

Die Chinesen etwa schlagen mit Blick auf die Solar­energie eine Art Energie-Wirbel­säule für den Erdball vor, also ein dickes HGÜ-Kabel, das einmal rund um den Äquator führt und von dem die Leitungen abgehen. Sie haben da ein bestechend einfa­ches Argu­ment: Global gesehen ist es nie Nacht — auf einer Hälfte der Erde scheint immer die Sonne.

Einmal um den Erdball?

Das ist nicht so viel, wie es klingt. Es sind bloß rund 40.000 Kilo­meter. Wenn Sie alle Drähte in allen Hoch­span­nungs­lei­tungen zwischen München und Hamburg zusam­men­nehmen, haben Sie auch so viel. Und auch der Über­tra­gungs­ver­lust von 1,5 bis 2,5 Prozent pro tausend Kilo­meter ist beherrschbar: Sie müssen ja nicht jedes Elek­tron einmal um die ganze Welt schi­cken.

Es könnte schon reichen, wenn sich immer die Rand­ge­biete am Über­gang von Tag zu Nacht austau­schen. Ich glaube, auf so etwas in der Art wird es hinaus­laufen. Manche sagen ja, wir schi­cken dann lieber Tanker mit Wasser­stoff um den Globus. Ich denke aber, es läuft auf HGÜ hinaus. Und es gibt noch ein Groß­pro­jekt, das vor uns liegt.

Uff, noch ein Groß­pro­jekt? Welches denn?

Saiso­nale Spei­cher — kleine und große — in den Ländern, die nicht am Äquator liegen, also eigent­lich in allen Indus­trie­län­dern. Unsere Vorfahren hatten das schon: Die sägten im Winter Eisblöcke aus den Seen, packten sie in den Keller, deckten sie mit Stroh zu und kühlten damit im Sommer das Bier. Dieses Prinzip sollten wir auch wieder beher­zigen: Wir spei­chern Strom aus Sonne und Wind, wenn beides im Über­fluss vorhanden ist, und über­brü­cken damit die Saisons, in denen Flaute und Dunkel­heit vorherr­schen.

Aber nicht nur Strom: Auch Wärme und Kühle ließen sich aufbe­wahren für Heizungen und Klima­an­lagen. Um auf Ihre Anfangs­frage zu antworten: ther­mi­sche und elek­tri­sche Spei­cher — wenn ich Sie wäre, würde ich mein Geld in diese Tech­no­lo­gien inves­tieren. Denn hier gibt es noch viel zu inno­vieren.

Zur Person

Lars Thomsen, Trend- und Zukunfts­for­scher, 1968 in Hamburg geboren, ist Experte für die Zukunft von Energie, Mobi­lität und Smart Networks. Seit seinem 22. Lebens­jahr berät er als selbst­stän­diger Unter­nehmer Firmen, Konzerne, Insti­tu­tionen und regie­rungs­nahe Stellen in Europa bei der Entwick­lung von Zukunfts­stra­te­gien. Außerdem ist er Mitglied zahl­rei­cher Think Tanks und der World Future Society in Washington, D.C. Lars Thomsen lebt mit seiner Familie am Zürichsee in der Schweiz.
www.future-matters.com


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