Indien steht vor gewaltigen Herausforderungen bei der Elektrifizierung. Wie sollen die Netze der Zukunft dort aussehen? Eine Studie bringt Klarheit.
Indien hat in den letzten Jahren einen gewaltigen Sprint bei der Elektrifizierung hingelegt. Noch um die Jahrtausendwende hatten rund 700 Millionen Menschen keinen Zugang zu Strom. Das änderte sich nach einem gewaltigen staatlichen Aufbauprogramm. Zur Wahrheit gehört aber auch: Stromausfälle sind an der Tagesordnung, in manchen Gegenden gibt es am Tag nur ein paar Stunden Elektrizität und die Bevölkerung wächst so schnell, dass der Netzausbau dem Bedarf hinterherhinkt.
Kurz: Der Energiehunger des 1,3‑Milliarden-Einwohner-Landes ist noch lange nicht gestillt. Die IEA geht davon aus, dass sich der Strombedarf des Subkontinents bis 2040 verdreifachen wird. Aktuell ist Indien nach China und den USA der drittgrößte Stromproduzent der Welt. Kohle ist dabei mit einem Anteil von über 50 Prozent noch der Energieträger Nummer eins. Doch am Energiemix tut sich was: Auf der Pariser Klimakonferenz 2015 verkündete Premierminister Narendra Modi, bis zum Jahr 2022 die installierte Leistung erneuerbarer Energien auf 175 Gigawatt erhöhen zu wollen. Allerdings braucht es dazu auch Netze, die Erzeugungs- und Verbrauchszentren verbinden.
Ein Großteil der erneuerbaren Energie stammt aus Solar- und Windenergie: vom einzelnen Panel auf dem eigenen Hausdach bis hin zu riesigen, mehreren Hektar großen Solar- und Offshore-Windparks. Allerdings, was gut für die Umwelt ist, passt nicht immer zu den vorhandenen Netzen. Daher untersucht Reinhausen zusammen mit dem Indian Institute of Technology Madras (IITM) in einer Studie, wie die Netze für die anstehenden Aufgaben fit gemacht werden können, da alle heutigen Planungen mit dem Wachstum von morgen früh hinfällig sind. Wir haben Ajay Nilakantan, Geschäftsentwickler Stufenschalter bei Reinhausen, und Professor Dr. K. Shanti Swarup vom IITM nach den wichtigsten Erkenntnissen gefragt.
Vor welchen Herausforderungen steht Indiens Stromnetz aktuell?
PROF. DR. K. SHANTI SWARUP: Das indische Stromnetz muss einerseits immer zuverlässiger werden und andererseits flexibel auf die sich permanent ändernden Anforderungen reagieren. Aktuell müssen wir im Übertragungsnetz die Stabilität für die Spannung sicherstellen, gleichzeitig ergeben sich durch die Einspeisung erneuerbarer Energien von dezentralen Erzeugern bidirektionale Lastflüsse.
„Das indische Netz muss zuverlässiger und gleichzeitig flexibler werden.“Prof. Dr. K. Shanti Swarup vom Indian Institute of Technology Madras (IITM)
Hinzu kommt, dass die Übertragungsunternehmen weniger direkten Einfluss auf die Erzeugungseinheiten haben, weder auf die Zugangspunkte noch auf die Betriebsarten. Daher erfordert das Netz Lösungen, die einen koordinierten Betrieb, flexible und dynamische Steuerung, eine optimale Nutzung des erzeugten Stroms, minimale Verluste und geringen Platzbedarf ermöglichen.
Wie äußern sich die Probleme?
PROF. SWARUP: Das ist eine sehr komplexe Gemengelage. Jede Methode zur Flexibilisierung des Netzbetriebs erhöht den Bedarf an Blindleistung. Die Bereitstellung der Blindleistung kann nicht nur im überregionalen Übertragungsnetz, sondern auch im regionalen Hochspannungsnetz bis hin zum primären Verteilungsnetz erfolgen.
Dann haben wir es auch noch mit dynamischen Spannungsschwankungen durch die gestiegene Volatilität bei der Energieerzeugung zu tun. Damit steigt auch die Gefahr einer Überlastung bestimmter Leitungen, was wiederum zu deren Abschaltung führt und damit zu ungewollten Stromausfällen. Und was die Solarfarmen angeht, so ist die installierte Leistung zwar hoch, aber es gibt teilweise zu wenig Leitungskapazität, um sie zu übertragen.
Gibt es dafür Lösungen?
AJAY NILAKANTAN: Im Prinzip haben wir hier drei Hebel: erstens einen koordinierten Regelbetrieb der Transformatoren, zweitens eine dynamische Blindleistungskompensation — dafür sind geregelte Shunt-Reaktoren eine wirtschaftliche Lösung — sowie, drittens, der gezielte Einsatz von Phasenschiebertransformatoren (PST), die den Lastfluss zwischen Netzen beziehungsweise Netzsegmenten aktiv regeln. Wie diese drei Hebel wirken, haben wir in der Studie untersucht.
REINHAUSEN INSIDE
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Wie sind Sie in der Studie vorgegangen?
PROF. SWARUP: Wir haben uns auf die Auswirkungen der Integration von erneuerbaren Energien auf das Spannungsprofil und auf die Leistungsflussregelung in ausgewählten Netzabschnitten über einen Zeitraum von fünf bis sieben Jahren konzentriert. Das Übertragungsnetz im Bereich von fünf Bundesstaaten haben wir uns dafür genau angesehen und unter Einsatz spezieller Software Modellrechnungen und Simulationen für verschiedene Betriebszustände durchgeführt. Also geprüft, wie sich die fünf Netze über die Zeit mit wenig oder gar keinen Einspeisern regenerativer Energien verhält und wie mit einem sehr hohen Anteil.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
NILAKANTAN: Interessant war zu sehen, dass bereits die optimierte Nutzung von bestehenden Betriebsmitteln in Kombination mit Phasenschiebertransformatoren oder dynamischen Kompensationsdrosseln (Variable Shunt Reactor — VSR), zu einer Flexibilisierung der Netze beiträgt und Reserven im Bestandsnetz heben kann. Allein die bessere Koordination der relevanten Transformatoren in den Umspannwerken führt zu geringeren Netzverlusten. Das ist eine wichtige Erkenntnis — der Netzausbau soll eben auch wirtschaftlich bleiben.
Können Phasenschiebertrafos also zur Flexibilisierung der Netze in Indien beitragen?
PROF. SWARUP: Ja. Wir schauen da insbesondere nach Europa, wo Phasenschiebertransformatoren eine lange Tradition im Verbundnetz (ENTSO‑E) haben. In Indien können wir davon lernen, wie der Lastfluss zwischen Regelzonen und verschiedenen Spannungsebenen effektiv kontrolliert werden kann. Allerdings haben wir in ganz Indien bislang nur einen Phasenschiebertransformator im Wärmekraftwerk Kothagudem im Bundesstaat Telangana. Er koordiniert dort die bestehenden 220-Kilovolt-Leitungen. Bei fehlerfreien 40.000 Schaltvorgängen in vier Jahren sind die Erfahrungen sehr vielversprechend.
„Indien kann versuchen, es anders zu machen als Europa.“Ajay Nilakantan, Manager Business Development bei MR
NILAKANTAN: Indien kann hier aber auch versuchen, es anders zu machen. In Europa sind Phasenschieber aus regulatorischen Gründen meist an den Ländergrenzen positioniert. Aus netztopologischer Sicht ist das nicht immer der beste Ort. Indien hat den Vorteil, Phasenschieber genau dort positionieren zu können, wo sie den Lastfluss zwischen großen Erzeugungseinheiten erneuerbarer Energien und den Verbrauchszentren optimieren.
Worauf müssen Betreiber achten, wenn sie Phasenschiebertrafos einsetzen möchten?
NILAKANTAN: Phasenschiebertransformatoren müssen immer an die individuellen Netzgegebenheiten angepasst werden. Aus den Netzbedingungen ergeben sich dann die physikalischen Anforderungen an das Betriebsmittel. Neben typischen Größen wie Nennspannung, Phasenwinkel und Kurzschlussleistung spielen das Betriebsregime und auch logistische Dinge wie der Transport eine wichtige Rolle.
Für die Funktionalität im Netzbetrieb ist die Auslegung der notwendigen Stufenschalter ein wichtiger Aspekt. Der Stufenschalter beeinflusst das Design des Aktivteils des Transformators und umgekehrt. In einem solchen Projekt ist ein enger Austausch zwischen Netzbetreiber, Hersteller des Transformators und Hersteller des Stufenschalters unabdingbar.
Was können andere Netzbetreiber aus dieser Studie lernen?
PROF. SWARUP: Ländern mit großem Wachstum bietet sie Erkenntnisse, wie die Verantwortlichen beim Aufbau, Ausbau und Betrieb von Netzen durch intelligente Planung Kosten entlang des Lebenszyklus von Betriebsmitteln optimieren können. Die Studie bietet auch für Industrienationen mit einer großen Bestandsinfrastruktur im fortgeschrittenen Alter Ansätze für einen betriebsoptimierten Umbau des Bestandsnetzes bei punktgenauer Investition in neue Betriebsmittel.
BEISPIEL MUMBAI
Mumbai ist mit 12,5 Millionen Einwohnern die größte Stadt in Indien. Mit Agglomeration ist sie die sechstgrößte Metropolregion der Welt. Der Energieversorger Adani Electricity Mumbai Limited erklärt, warum dynamische Kompensationsdrosseln (Variable Shunt Reactor — VSR) wichtig sind, um die Stromversorgung der Megacity zu sichern:
„In einer Stadt wie Mumbai ist die Qualität der Energieversorgung von großer Bedeutung, wenn man die Arten von Verbrauchern betrachtet, die an das Netz angeschlossen sind. Ein wichtiges Kriterium ist, dass die Spannung innerhalb des zulässigen Bereichs bleibt. Angesichts des großen bestehenden und des geplanten 220-kV-Kabelnetzes könnte es zu großen Spannungsschwankungen durch den erheblichen Kapazitätseffekt kommen, der durch HöS-Kabel verursacht wird. Wir haben uns darum für die Installation einer dynamischen Kompensationsdrosselspule im Netz entschieden, da diese die Flexibilität bietet, das 220-kV-Spannungsprofil durch Feinregelung der Kompensationsdrosselspule mit einem Laststufenschalter zu realisieren und das häufige Schalten der 220-kV-Drosselspule zu vermeiden.“
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