Höchst­span­nung in London

London braucht immer mehr Energie, hat aber keinen Platz. Darum baute die Stadt eine Ener­gie­trasse tief unter der Erde. Um dem Albtraum Blackout zu entgehen, checkten mobile Prüf­sys­teme jeden einzelnen Kabel­ab­schnitt.


Finsternis von vorn, Fins­ternis von hinten. Alle paar Minuten rast eine grol­lende U‑Bahn über seinen Kopf hinweg. Dann ist wieder Ruhe und jedes Wort verliert sich in der Schwärze, genauso wie das Licht der Arbeits­leuchten.

Andreas Wein­lein vom Kabel­her­steller Südkabel GmbH aus Mann­heim läuft noch immer ein Schauder über den Rücken, wenn er an seinen Einsatz tief unter der Erde Londons zurück­denkt. Als Leiter System Engi­nee­ring war er dafür verant­wort­lich, Hoch­span­nungs­kabel auf einer Länge von knapp 32 Kilo­me­tern zu verlegen und zu prüfen. Insge­samt 200 Kilo­meter Kabel waren dafür notwendig, da das Mate­rial für drei Phasen und die Anschlüsse an die Umspann­werke reichen musste. Die Arbeiten wurden in drei Bauab­schnitten von 2010 bis 2017 durch­ge­führt. Der Auftrag­geber: der briti­sche Über­tra­gungs­netz­be­treiber National Grid.

Hinab unter die Mega­city

London giert nach Strom. 20 Prozent des gesamten Elek­tri­zi­täts­be­darfs des Verei­nigten König­reichs verschlingt der Stadt­gi­gant jetzt schon. Und jedes Jahr wird er gefrä­ßiger, durch­schnitt­lich um drei bis fünf Prozent steigt der Bedarf pro Jahr. Doppelt so stark wie im Rest des Landes. Das Strom­netz der Stadt ächzt und kommt langsam an seine Kapa­zi­täts­grenze. Viele Kabel, die sich unter der Stadt winden, wurden schon vor 40, 50 Jahren verlegt und basieren auf einer veral­teten Tech­no­logie: der Ölpa­pier­iso­lie­rung. „Heute ist eine Isolie­rung aus vernetztem Poly­ethylen Stand der Technik“, erklärt Wein­lein.

„Die Verbin­dung von Hoch­span­nungs­ka­beln ist komplex. Ohne aufwen­dige Prüfung dürfen die nicht ans Netz.“ Andreas Wein­lein, Leiter System Engi­nee­ring bei Südkabel GmbH

Die soge­nannten VPE-Kabel sind sicherer, da durch sie kein Öl ins Grund­wasser gelangen kann, und zudem güns­tiger im Unter­halt. National Grid entschied sich daher die alten 275-Kilo­volt-Ölkabel durch moderne VPE-Kabel zu ersetzen, die mit 400 Kilo­volt die Über­tra­gungs­ka­pa­zität erheb­lich erhöhen. Es ist eines der größten Infra­struk­tur­pro­jekte Londons der letzten Jahr­zehnte.

Die alten Ölkabel liegen direkt unter der Stra­ßen­ober­fläche. Wollte man sie an Ort und Stelle erneuern, müsste man die Straße aufreißen. Die Folge wäre eine Stau-Epidemie in der ohnehin schon verkehrs­ge­plagten Stadt. National Grid entschied sich daher dafür, in die Tiefe zu gehen und Tunnel zu graben. Aber auch unter der Erde wuchert die Stadt: Geflechte aus U‑Bahn-Schächten, Stränge von Abwas­ser­ka­nälen, ein Gewirr aus Straßen- und Fußgän­ger­tun­neln. Daher musste National Grid noch tiefer hinab ins Erdreich: zwölf bis 60 Meter. Dort bohrten sie die Kabel­tunnel mit drei bis vier Meter Durch­messer, die so ausge­legt sind, dass nach­träg­lich weitere Kabel gelegt werden können. Immer wieder führen Schächte ans Tages­licht und verbinden die unter­ir­di­sche Leitung mit den Umspann­werken.

Das Power-Tunnel-Projekt in London: Insge­samt knapp 32 Kilo­meter lang ist das Tunnel­system für die 400-Kilo­volt-Kabel. Schächte verbinden die Leitung mit den Umspann­werken an der Ober­fläche. (© shut­ter­stock)

Die Verle­gung der Kabel in bis zu 60 Meter Tiefe erfor­dert ein enormes Fach­wissen der Monteure. (© Südkabel)

Hoch­sen­sible Montage

Doch bevor der erste Kabel­meter in den Tiefen unter der Stadt verschwinden kann, muss das Mate­rial erst einmal in London sein. Insge­samt 200 Kilo­meter Kabel schaffte Südkabel nach der Fertig­stel­lung und Endprü­fung vom Werk in Mann­heim über den Rhein und die Nordsee in die könig­liche Haupt­stadt: 182 Kabel­trom­meln à 40 Tonnen. Die Instal­la­tion vor Ort stellte die nächste Hürde dar. „Die Verbin­dung solcher Hoch­span­nungs­kabel ist komplex, die lassen sich nicht einfach zusam­men­ste­cken wie ein normales Verlän­ge­rungs­kabel“, sagt Wein­lein.

Die Monteure von Südkabel verbinden die Kabel mit spezi­ellen Muffen. Da es um drei Phasen geht, müssen sie an jeder einzelnen Verbin­dungs­stelle drei davon montieren. Für nur einen Satz dauert das andert­halb Wochen. „Es kommt auf jeden Milli­meter an. Das Wissen steht in keinem Lehr­buch, da ist enorm viel Erfah­rung gefragt.“ Die Monteure halten sich penibel an die Konstruk­ti­ons­zeich­nungen und achten darauf, dass keine Verschmut­zungen auftreten – und das alles in einer engen Röhre, Dutzende Meter unter dem tosenden London. Jeder Monta­ge­fehler kann zur Kata­strophe führen: „Geht die Leitung dann ans Netz, kommt es zu Durch­schlägen und weite Teile Londons blieben im Dunkeln.“

Prüfung vor Ort

Damit dies nicht geschieht, werden die Kabel vor Inbe­trieb­nahme geprüft und mögliche Fehl­stellen vorab besei­tigt. „Nach dem Montieren können wir nicht mehr in das Kabel­system rein­schauen, das ist nicht durch­sichtig. Fehler lassen sich nur erkennen, wenn wir eine Prüf­span­nung anlegen und parallel dazu eine Teil­ent­la­dungs­mes­sung machen“, sagt Wein­lein. Die Teil­ent­la­dungs­mes­sung dient dazu, Entla­dungen im Kabel zu detek­tieren, die zu einem Durch­schlag des Betriebs­mit­tels führen können.

Welt­weiter Markt­führer für solche Prüf­sys­teme ist HIGHVOLT in Dresden. Seit 2002 ist das Unter­nehmen Mitglied der Rein­hausen Gruppe. HIGHVOLT ist ein Pionier auf dem Gebiet der Prüfung von VPE-Kabeln im Hoch­span­nungs­be­reich. Das welt­weit erste mobile Prüf­system für 400-Kilo­volt-Kabel bauten die Dresdner in den 1990ern für ein Projekt in Berlin. Damals setzte sich VPE gerade als Isola­ti­ons­ma­te­rial für die Hoch­span­nungs­ebene durch. Bis dahin wurden für die Verle­gung unter der Erde Öl- oder Gasdruck­kabel verwendet, die die Prüf­in­sti­tute mit Gleich­strom prüften. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass diese Methode für VPE-Kabel unge­eignet war.

Die Kabel­ver­ei­ni­gung in Berlin

Nach dem Mauer­fall und der poli­ti­schen Wieder­ver­ei­ni­gung sollten Ost und West auch ener­ge­tisch zusam­men­wachsen. Aus Platz­gründen entschied sich der Berliner Energie­versorger BEWAG Mitte der 1990er-Jahre dafür, die neue Verbin­dungs­lei­tung zwischen dem Bezirk Tier­garten im Westen und Fried­richs­hain im Osten unter die Erde zu legen. Dafür wurde ein 6,3 Kilo­meter langer Tunnel gebohrt.

Zum ersten Mal wagte es ein Unter­nehmen, dafür 400-Kilo­volt-Kabel, isoliert mit vernetztem Poly­ethylen (VPE), zu verwenden. Für diese Span­nungs­ebene und Kabel­tech­no­logie gab es aller­dings kein geeig­netes Prüf­system.

HIGHVOLT wurde damals beauf­tragt, eine entspre­chende Prüf­an­lage zu entwi­ckeln. Dabei konnten die Inge­nieure auf Über­le­gungen zurück­greifen, die sie in diesem Bereich zusammen mit der Fach­kom­mis­sion für Hoch­span­nungs­fragen (FKH) Zürich ange­stellt hatten. Die Prüf­me­thode hat sich durch­ge­setzt und gilt seitdem als Stan­dard für die Inbe­trieb­nah­me­prü­fungen von extru­dierten Hoch­span­nungs­ka­beln.

Michael Hensel, Area Sales Manager bei HIGHVOLT, erklärt: „Es gab Fälle, da erbrachte die Prüfung mit Gleich­span­nung immer posi­tive Ergeb­nisse, doch im Betrieb kam es regel­mäßig zu Defekten am Kabel.“ Der Grund: Vernetztes Poly­ethylen ist hoch isolie­rend, Ladungen können sich dort tage­lang halten. Wenn das Kabel dann ans Netz geht, addieren sich inneres und äußeres Feld, was zu lokalen Über­las­tungen der Isolie­rung führt.

Es musste also eine andere Prüf­tech­no­logie her. Die Heraus­for­de­rung: Da die Prüf­span­nung über der Betriebs­span­nung liegt, muss das Prüf­system so ausge­legt sein, dass die Leis­tungs­ver­sor­gung auch vor Ort reali­sierbar ist. „Wir müssen mit mobilen Gene­ra­toren arbeiten und können kein Kraft­werk neben die Prüf­an­lage stellen“, verdeut­licht Hensel. HIGHVOLT entwi­ckelte daher eine Lösung weiter, die bereits für Vor-Ort-Prüfungen von gasiso­lierten Schalt­an­lagen Verwen­dung fand: die Reso­nanz­prü­fung mit Wech­sel­span­nung und varia­bler Frequenz. „Unsere Prüf­sys­teme arbeiten im Bereich von 20 bis 300 Hertz, dadurch reichen auch klei­nere Gene­ra­toren für die Leis­tungs­ver­sor­gung“, sagt Hensel. Damit das Prüf­system mobil bleibt, konzi­pierten es die Inge­nieure bei HIGHVOLT so, dass es auf einen Lkw-Trailer passt.

Das Prüf­system findet Platz auf einem Lkw-Trailer. Es besteht aus einem Frequenz­um­richter (1), der auch die Steue­rung der Prüf­an­lage über­nimmt, einem Erre­ger­trans­for­mator (2), einer Reso­nanz­drossel (3) mit fester Induk­ti­vität sowie einem kapa­zi­tiven Span­nungs­teiler zur Messung der Prüf­span­nung (4). In der Prüf­ka­bine (5) können die Tech­niker die Messungen beob­achten. Ein einzelnes Prüf­system ist für Prüfungen bis zu 260 Kilo­volt und 83 Ampere ausge­legt. Damit können Hoch­span­nungs­kabel von mehreren Kilo­meter Länge geprüft werden. Sind höhere Prüf­span­nungen oder die Prüfung von bis zu hundert Kilo­meter langen Kabeln gewünscht, lassen sich mehrere Prüf­sys­teme einfach in Reihe oder parallel schalten.

Regis­triert die Prüf­an­lage einen Über­schlag, schaltet sie inner­halb von Mikro­se­kunden ab. Da der Ener­gie­ein­trag durch den Reso­nanz­ef­fekt in der Fehl­stelle gering ist, sind auch die Zerstö­rungen weniger drama­tisch, Fehler lassen sich einfa­cher iden­ti­fi­zieren und schneller repa­rieren. „Unter Betriebs­be­din­gungen wäre der Aufwand bei der Repa­ratur wesent­lich höher, das Kraft­werk läuft schließ­lich weiter.“

Welt­weit sind mitt­ler­weile 300 Prüf­trailer im Einsatz, in Amerika, Europa, Asien und auch in Austra­lien. „Der Trend geht eindeutig dahin, immer höhere Spannungs­ebenen unter die Erde zu legen. Keiner will Strom­masten vor der Haus­türe, die zudem viel Platz bean­spru­chen. Und der ist in den Groß­städten rar“, betont Hensel.

Der Prinz gibt sich die Ehre

Diese Entwick­lung kann Wein­lein bestä­tigen. „Südkabel führt in vielen Metro­polen solche Kabel­pro­jekte durch. Unter anderem haben wir zuletzt auch in Moskau Kabel verlegt.“ Die Endprü­fungen führt der Experte häufig gemeinsam mit den Prüf­in­sti­tuten, die die Anlagen von HIGHVOLT stellen, durch. „Bei so einer Prüfung gibt es viele Dinge, die spontan entschieden werden müssen, even­tuell muss auch noch mal eine Muffe ausge­tauscht werden. Gerade die Teil­ent­la­dungs­mes­sung ist sehr komplex, da ist es enorm wichtig, die rich­tigen Schlüsse aus den Werten zu ziehen.“ In London kamen zwei Prüf­trailer zum Einsatz, da das längste zu prüfende Teil­stück mehr als zwölf Kilo­meter maß. „In so einem Fall werden die Systeme einfach parallel geschaltet.“ Insge­samt eine Woche dauerten die Inbe­trieb­nah­me­prü­fungen.

Anfang 2018 folgte dann die feier­liche Eröff­nung, sogar mit könig­li­cher Unter­stüt­zung: Prinz Charles und Camilla drückten zum Klang von „I’ve got the power“ den Start­knopf. Dank des neuen Kabel­sys­tems wird der Ener­gie­hunger der Mega­city nun für weitere vierzig Jahre gestillt. Denn für diese Dauer ist das Kabel­system ausge­legt.


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