Tim Meyerjürgens, Chief Operating Officer bei TenneT, über die Pläne des Übertragungsnetzbetreibers in der Nordsee.
Bis 2030 sollen 120 und bis 2050 sogar 300 Gigawatt Strom in der Nordsee produziert werden. Wie kann man diese Aufgabe angehen?
Die europäische Energiewende, also der vollständige Umbau unseres fossilen Energiesystems hin zu einem, das im Wesentlichen auf erneuerbare Energien setzt, ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Das kann nur gelingen, wenn wir entschieden und über Ländergrenzen hinweg zusammenarbeiten. Um sowohl die steigende Nachfrage bedienen zu können als auch klimaneutral zu werden, müssen die EU-Mitgliedstaaten erneuerbare Energien und Übertragungsnetze zügig und umfassend ausbauen.
Blicken wir auf Zentraleuropa, dann stehen uns in Zukunft in erster Linie Wind- und Solarenergie als Quellen zur Verfügung. Dabei wird Offshore-Windenergie eine zentrale Rolle spielen und die Nordsee sich zum Powerhouse für Nord-West-Europa entwickeln. Unternehmen aus den Nordsee-Anrainerstaaten Niederlande, Dänemark und Deutschland haben sich daher 2017 zusammengeschlossen und den North Sea Wind Power Hub als eines der Projects of Common Interest ins Leben gerufen.
„Zurzeit betreiben wir Offshore-Netzanbindungssysteme mit einer Gesamtkapazität von rund 11,5 Gigawatt (GW). Bis 2031 werden wir die Kapazität auf gut 40 GW ausbauen.“
Tim Meyerjürgens, Chief Operating Officer bei TenneT
Im Fokus stehen drei Ideen: Das immense Potenzial der Nordsee soll mit länderübergreifenden Verbindungen über einen Energie-Hub auf See erschlossen werden. Durch die Kombination von Windpark-Anbindungsleitungen und Interkonnektoren wird eine kosteneffiziente und resiliente länderübergreifende Netzstruktur geschaffen, die verschiedene Wettersysteme miteinander verbindet und hilft, das volatile Angebot der erneuerbaren Energien zu verstetigen. Und die Integration verschiedener Energiesektoren und Energieträger schafft beste Voraussetzungen für die Herstellung von Wasserstoff und unterstützt somit die Dekarbonisierung der Industrie.
Auf dem Weg dorthin treibt TenneT als Europas führender Offshore-Übertragungsnetzbetreiber bereits heute den Ausbau und die Entwicklung neuer technischer Standards massiv voran. Zurzeit betreiben wir Offshore-Netzanbindungssysteme mit einer Gesamtkapazität von rund 11,5 Gigawatt (GW). Bis 2031 werden wir die Kapazität auf gut 40 GW ausbauen und damit ein Drittel des europäischen Ziels von 120 GW für 2030 bereitstellen.
Wie lässt sich der massive Ausbau der Windenergieerzeugung in der Nordsee beschleunigen?
Eine Antwort darauf ist North Sea Wind Power Hub. Anstelle von einzelnen nationalen Punkt-zu-Punkt-Verbindungen untersuchen wir, wie das große Windpotenzial in der Nordsee von den europäischen Ländern gemeinsam erschlossen und verteilt werden kann. Im Ergebnis erreichen die beteiligten Länder somit eine deutliche Beschleunigung des Ausbaus der Offshore-Windenergie als Grundlage für das Erreichen der angestrebten Klimaneutralität 2045.
„Unser neuer technischer 2‑GW-Standard wird den Netzausbau in der Nordsee beschleunigen und die europäische Energiewende weiter antreiben.“
Tim Meyerjürgens, Chief Operating Officer bei TenneT
Eine zweite Antwort ist unser 2‑GW-Programm. Unser neuer technischer Standard wird den Netzausbau in der Nordsee beschleunigen und die europäische Energiewende weiter antreiben. Er wird Ressourcen schonen und Eingriffe in die Umwelt reduzieren — bei mehr als doppelt so hoher Leistung im Vergleich zu bisherigen Systemen. Es handelt sich um ein standardisiertes 2‑GW-Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungs-Plattformkonzept (HGÜ) und ein neues 525 kV starkes Kabelsystem.
Beide erhöhen die Übertragungskapazität und reduzieren zugleich Auswirkungen auf die Umwelt. Bis 2031 wird TenneT mindestens 14 dieser 2‑GW-Offshore-Netzanschlusssysteme in der deutsch-niederländischen Nordsee bauen. Gemeinsam werden die Projekte bis zu 35 Millionen europäische Haushalte mit grüner Windenergie aus der Nordsee versorgen. Der 2‑GW-Standard stellt technisch den zentralen Baustein für ein modulares North-Sea-Windpower-Hub-Konzept dar.
Welche Konzepte verfolgt TenneT in der Nordsee?
Wir verfolgen das Konzept eines vermaschten Gleichstromnetzes auf See und an Land. Um das immense Potenzial in der Nordsee zu erschließen, braucht es eine länderübergreifende Vernetzung der Windparks mit Verteilkreuzen und leistungsstarker Netzinfrastruktur. Wir arbeiten derzeit daran, dass wir in Zukunft auf hoher See Offshore-Netzanschlusssysteme so miteinander vernetzen, dass Leistung gebündelt und international sinnvoll verteilt wird. In Deutschland sind die Netzverknüpfungspunkte an Land dann beispielsweise geeignete Standorte, um wichtige Industrien direkt mit grüner Energie zu versorgen. Im Sinne der Sektorenkopplung schafft das die besten Voraussetzungen für die Herstellung und Integration von Wasserstoff zur Dekarbonisierung der Industrie.
Neu ist auch, dass Gleichstromleitungen an Land in einem vermaschten System konzipiert werden: An ausgewählten Netzverknüpfungspunkten an Land sollen die Gleichstromleitungen von See in sogenannten Multiterminalhubs mit den weiterführenden Gleichstromleitungen an Land direkt vernetzt werden. Das macht das System noch robuster, leistungsfähiger und kosteneffizienter. Auch lassen sich dadurch der Flächenverbrauch und die Umwelteingriffe deutlich minimieren — ein wichtiger Faktor für Akzeptanz.
Sind künstliche Energieinseln als Verteilungshub der Offshore-Windenergie aus Ihrer Sicht eine Lösung?
Die Planungen für Offshore-Windpark-Vernetzungen befinden sich noch in einem frühen Stadium und hängen stark von den örtlichen Gegebenheiten, insbesondere von der Wassertiefe, ab. Grundsätzlich können ganz unterschiedliche Modelle zum Einsatz kommen — verschiedene Arten von Plattformstrukturen oder eben auch Inseln.
Viel wichtiger bei der Diskussion ist die notwendige technische Standardisierung der Konverterplattformen und Offshore-Anbindungssysteme. Nur mit einem anbieter- und betreiberübergreifenden Technikstandard lässt sich eine Vernetzung realisieren und wird das System flexibel und effizient.
Welche Bedeutung wird die Produktion von grünem Wasserstoff im Rahmen des Windkraftausbaus bekommen?
Moleküle sind ein unverzichtbarer Baustein für die Energiewende und langfristig bilden sie zusammen mit Strom die Energiebasis für unsere Industrie. Kurz: Ohne Moleküle geht es nicht. Den größten Teil des Wasserstoffs werden wir auch in Zukunft aus anderen Teilen der Welt importieren. Die Elektrolyse in der deutschen Nordsee wird derzeit intensiv untersucht.
Als Übertragungsnetzbetreiber ist für uns am Ende der Faktor wichtig, dass Elektrolyseure — auch in der Nordsee — netzdienlich verortet sein müssen und somit keine weiteren Netzengpässe generieren. Das bedeutet: Überall dort, wo wir Energie in Form von Strom benötigen, ist es effizienter, nicht den Umweg über den Wasserstoff zu gehen, sondern den Strom vom Ort der Erzeugung über Leitungen zu den Verbrauchern zu transportieren. Denn bei der zweifachen Umwandlung von Strom zu Wasserstoff und zurück geht viel Energie verloren. Doch in vielen Bereichen brauchen wir grünen Wasserstoff, zum Beispiel zur Dekarbonisierung der Industrie oder für Gaskraftwerke.
In einem System, das auf volatilen Energieträgern wie Sonne und Wind basiert, brauchen wir zwingend zusätzlich gesicherte Stromleistung, also ein verlässliches Backup. Die zentrale Rolle werden dabei wasserstofffähige Gaskraftwerke übernehmen. So sieht es auch die Kraftwerksstrategie der Bundesregierung vor. Die Gaskraftwerke müssen flexibel einspringen können, wenn die Erneuerbaren vorübergehend nicht genügend Strom liefern. Darum ist Wasserstoff von herausragender Bedeutung für unsere künftige Energieversorgung und die Systemsicherheit.
Welche Betriebsmittel und Services werden im Kontext dieser großen Aufgaben wichtiger?
Die europäische Energiewende aus der Nordsee heraus anzugehen, ist ein vielversprechender Plan — und eine enorme Herausforderung. Immer mehr Windparks und Offshore-Netzanschlusssysteme müssen in immer kürzerer Zeit gebaut werden. Gleichzeitig erschweren fragile Lieferketten und stark gestiegene Materialkosten auf dem Weltmarkt, etwa für Rohstoffe, zunehmend eine zeitnahe und kosteneffiziente Umsetzung dieses Vorhabens.
Mit unserem innovativen 2‑GW-Standard haben wir eine vertragliche, administrative und technologische Blaupause für zukünftige Offshore-Netzanschlusssysteme entwickelt. Damit haben wir ein starkes Fundament geschaffen, um grüne Windenergie aus der Nordsee künftig skalierbar und noch kosteneffizienter zu machen. Dazu trägt auch der Einsatz von FIDIC-Standardverträgen bei unseren Projekten bei. FIDIC ist weltweit anerkannt, wird branchenweit eingesetzt und erleichtert die Umsetzung unseres 2‑GW-Standards weiter.
„Die europäische Energiewende aus der Nordsee heraus anzugehen, ist ein vielversprechender Plan — und eine enorme Herausforderung.“
Tim Meyerjürgens, Chief Operating Officer bei TenneT
Nichtsdestotrotz, der Offshore-Ausbau stellt eine enorme Herausforderung dar. Immer mehr Systeme sollen in immer kürzerer Zeit produziert, installiert und in Betrieb genommen werden. Das wird nur in einem gemeinsamen Kraftakt gelingen. Wir sind daher dazu übergegangen, anstelle von Einzelausschreibungen Großausschreibungen für unsere HGÜ-Systeme/Plattformen und Kabelsysteme für eine ganze Reihe von Netzanbindungssystemen zu veröffentlichen, um unseren Lieferketten langfristig eine verlässliche Perspektive zu bieten.
Mit unserem neuen Ansatz bringen wir wichtige Akteure am Markt frühzeitig zusammen, bündeln Know-how und schaffen Synergien. So erhöhen wir rechtzeitig Marktkapazitäten und fördern Engagement und Zusammenarbeit. Unser partnerschaftlicher Ansatz ist ein Paradebeispiel für ein langfristiges Bekenntnis zu einem nachhaltigen und schnellen Netzausbau in der Nordsee. Der noch stärkere Fokus auf Partnerschaft geht mit einem grundlegenden Wertewandel einher. Lieferanten und Kunden werden zu noch engeren Partnern: gemeinsame Ziele, gemeinsame Herausforderungen, gemeinsame Verantwortung. Nur gemeinsam als Team werden wir das Tempo beim Netzausbau steigern und diese historische Herausforderung meistern können.
Energieboom auf dem Meer
Die Vernetzung der Meere
Erfahren Sie mehr über die Inselprojekte und die Produkte von MR