Die Nordsee soll künftig Europas grünes Kraftwerk werden. Doch wie kommen die gewaltigen Mengen Windstrom zu den Menschen? Torben Glar Nielsen, ehemaliger CTO von Energinet, und Wilfried Breuer, Geschäftsführer bei MR, haben da eine Idee: künstliche Energieinseln!
Auf der Welt wachsen überall riesige Windparks aus dem Wasser, allein in der Nordsee produzieren sie bereits heute rund 30 Gigawatt Strom. Doch es gibt noch weitaus größere Pläne. Im April 2023 haben in Ostende in Belgien die Regierungsvertreter von neun Ländern, darunter auch Dänemark, Deutschland und die Niederlande, beschlossen, dass die Nordsee zum Kraftwerk Europas ausgebaut werden soll: 300 Gigawatt umweltfreundlicher Strom für etwa 300 Millionen Haushalte sind bis 2050 geplant. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Heute stehen etwa 1.000 Windräder in der Nordsee, doch um den ambitionierten Plan zu erfüllen, sind zehnmal so viele notwendig.
Menschen wie Torben Glar Nielsen ist zu verdanken, dass ein gigantisches Projekt wie dieses überhaupt möglich ist. Er hatte schon die Idee, Windräder auf dem Meer zu installieren, als noch kaum jemand an eine solche Möglichkeit dachte. „Als ich zu Beginn meiner Karriere die Idee einmal im europäischen Parlament vorstellte, wurde ich noch ausgelacht.“ In seiner Heimat Dänemark ist die Windkraft inzwischen allgegenwärtig, rund 55 Prozent seines Strombedarfs deckt das Land allein aus der Kraft des Windes.
„Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass wir bald CO2-neutral leben können.“
Torben Glar Nielsen
Viele der Anlagen, die dies ermöglichen, hat Nielsen in seinem rund 45-jährigen Berufsleben selbst auf den Weg gebracht. Zuletzt in seiner Funktion als CTO beim dänischen Übertragungsnetzbetreiber Energinet, wo er bis 2021 arbeitete. Heute unterstützt er mit einem eigenen Beratungsunternehmen verschiedene Firmen bei Erneuerbare-Energie-Projekten. Nielsen sagt dazu: „Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass wir bald CO2-neutral leben können.“
Künstliche Energieinseln
Das Projekt in der Nordsee bringt die Menschheit diesem Ziel ein Stückchen näher. Eine der zentralen Fragen ist jedoch, wie diese gewaltigen Mengen an Strom künftig zu den Verbrauchern an Land gelangen. Zumal die Anlagen immer weiter raus aufs Meer wandern müssen, da in Küstennähe gar nicht genügend Platz ist. Die Vision: ein Netz aus künstlichen Inseln, die die Elektrizität als Teil eines länderübergreifenden Stromnetzes aus umliegenden Windparks einsammeln, weiterverteilen oder gleich vor Ort in Wasserstoff umwandeln.
Entstanden ist diese Idee 2017 bei einem Treffen zwischen den beiden Übertragungsnetzbetreibern Energinet und TenneT, bei dem es um die Realisierung des COBRAcables ging — einer Hochspannungs-Gleichstromübertragungsstrecke zwischen Dänemark und den Niederlanden. Nielsen, seinerzeit noch CTO bei Energinet, unterhielt sich in einer Pause mit seinem damaligen Geschäftsführerkollegen Wilfried Breuer bei TenneT.
„Das Kabel kreuzt auf seinem Weg durch die Nordsee auch Windkraftanlagen, und da kamen wir auf den Gedanken, ob Energieinseln nicht eine gute Lösung sind, Offshore-Windkraft besser anzubinden“, erinnert sich Nielsen. Breuer, inzwischen Geschäftsführer der Reinhausen Gruppe, sagt: „Die Nordsee ist recht flach und daher eigentlich prädestiniert für künstliche Inseln, die den Strom gleich an mehrere Länder verteilen könnten.“ So verrückt, wie die Idee vielleicht klingen mag, ist sie gar nicht. Land auf dem Meer aufzuschütten ist technisch nichts Neues. Die Flughäfen von Hongkong und Osaka beispielsweise sind auf künstlichen Inseln erbaut. Auch in den Niederlanden hat diese Form der Landgewinnung eine lange Tradition: Riesige Flächen wurden dem Meer durch Deichbau für die Landwirtschaft abgerungen, aber auch für große Teile des Hafens von Rotterdam.
Der Gedanke lässt die beiden Ingenieure nicht mehr los. Nur ein halbes Jahr später und nach einigen Gesprächen mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft initiieren sie das North Sea Wind Power Hub Programme (NSWPH). Das Konsortium aus TenneT, Energinet, und Gasunie sowie dem Hafen von Rotterdam soll technische und wirtschaftliche Machbarkeitsstudien erstellen, um die Nordsee zum Energiehub Europas auszubauen.
Die Nordsee als Kraftwerk
Bislang wird der Offshore-Windstrom auf Stahlplattformen, sogenannten Jackets, eingesammelt, wie sie auch die Öl- und Gasindustrie für die Förderung nutzt. Auf ihnen befinden sich die Gleichrichterstationen, die den Windstrom für den Weitertransport an Land in Gleichstrom umwandeln. Das Prinzip ist bewährt, hat jedoch auch seine Nachteile: Die Platzverhältnisse sind beengt, Wartungsarbeiten sind nicht zu jeder Jahreszeit möglich, und auch die Lebensdauer der Plattform ist angesichts der rauen Bedingungen begrenzt. Eine Insel wäre hier nachhaltiger und sie böte auch wesentlich mehr Fläche zum Aufbau der Infrastruktur. Momentan schafft es die Jacket-Lösung, maximal zwei Gigawatt Leistung zu bewältigen. Mit den Energieinseln wären in einer ersten Ausbaustufe etwa zehn Gigawatt und später bis zu 30 Gigawatt je Insel möglich.
„Die Energieinseln könnten den Strom von mehreren Offshore-Windanlagen einsammeln und über Seekabel gleich an mehrere Anrainerstaaten verteilen.“
Torben Glar Nielsen
Zudem ergeben sich durch sie weitere Nutzungsmöglichkeiten, die auf einer Plattform wirtschaftlich gar nicht möglich wären, erklärt Breuer: „Ein Teil des Stroms ließe sich direkt vor Ort für die Produktion von Wasserstoff nutzen, der dann über Pipelines an Land gebracht wird.“ Strom hat den Nachteil, dass er in jedem Sekundenbruchteil komplett abgeführt werden muss. Die Erzeugungsspitzen lassen sich daher für die Wasserstoffproduktion verwenden. Das bietet auch den Vorteil, dass die Strominfrastruktur nicht für die Spitzen, sondern nur für die Dauerlast und damit etwa 30 Prozent kleiner ausgelegt werden müsste. Auch Wartungsarbeiten sind einfacher, weil die Insel ausreichend Platz bietet, um Ersatzteile zu lagern und Unterkünfte für Technikpersonal zu bauen. So lassen sich Reparaturen schnell durchführen, ohne dass jemand per Helikopter oder Schiff extra hinausfahren muss.
Ein Stromnetz auf dem Meer
Noch etwas weitergedacht, könnten die Energieinseln zudem Teil eines internationalen Stromnetzes auf dem Meer werden, das Länder und Offshore-Windparks miteinander vernetzt. Bislang sind die Windparks radial wie eine Einbahnstraße an das Verbundnetz desjenigen Landes angebunden, in dessen Hoheitsgewässern sie sich befinden. Um den Strom zwischen verschiedenen Staaten auszutauschen, verlegen die Betreiber dann neue Seekabel, die teilweise genau an den Windparks vorbeiführen, von denen der Strom ursprünglich stammt. Ziemlich umständlich. „Die Energieinseln könnten den Strom von mehreren Offshore-Windanlagen einsammeln und über Seekabel gleich an mehrere Anrainerstaaten verteilen“, so Nielsen.
Das Hub-and-Spoke- Konzept
Bislang werden Windparks radial mit dem Festland verbunden. Doch wenn die Offshore-Windparks in Zukunft immer weiter weg von der Küste liegen, sind neue Konzepte notwendig. Das North-Sea-Wind-Hub (NSWPH-) Konsortium arbeitet daher an einem neuen Ansatz zur Anbindung von Offshore-Windkraftanlagen, dem sogenannten Hub-and-Spoke-Konzept, bei dem der erzeugte Strom aus mehreren Windparks zum Beispiel auf künstlichen Inseln gesammelt und auf die Länder rund um die Nordsee verteilt wird.
Bei diesem sogenannten Hub-and-Spoke-Konzept (siehe Kasten) und durch die Vernetzung der Energieinseln untereinander lässt sich zudem deutlich mehr Strom aus erneuerbaren Energien in das gesamteuropäische System integrieren. So ließe sich auch Norwegen mit seinen großen Wasserkraftreserven, die unabhängig vom Wind zur Verfügung stehen, mit einbinden. „Natürlich sind dafür noch die technischen Voraussetzungen zu schaffen, um die verschiedenen DC-Systeme aneinanderzukoppeln, aber auch dafür laufen bereits Studien“, sagt Breuer. In Zukunft ist dann eine deutlich stabilere Erzeugung erneuerbarer Energie möglich, und auch der Austausch zwischen den internationalen Strommärkten ist sehr viel einfacher.
Wann wird die Vision wahr?
Momentan sind die Planungen für zwei Inseln weiter fortgeschritten. Der belgische Übertragungsnetzbetreiber Elia plant bereits 2024 den Bau der Prinzessin-Elisabeth-Insel und in Dänemark ist vor Thorsminde eine weitere angedacht. Allerdings sind die künstlichen Energieinseln nicht günstig. Für das dänische Vorhaben kalkulieren die Planer mit Kosten von 28 Milliarden Euro, davon entfallen fünf Prozent auf die Insel. „Bis zu einer Leistung von zwei Gigawatt sind die konventionellen Jackets sicherlich die effizientere Lösung. Doch bei den angedachten Leistungen sind die Energieinseln im Vorteil“, so Nielsen.
„Wir als Reinhausen-Gruppe bieten die Technik und Serviceleistungen, damit das Netz auf dem Meer genauso zuverlässig funktioniert wie an Land.“
Wilfried Breuer, Geschäftsführer bei Reinhausen
Auch Breuer ist davon überzeugt, dass die wirtschaftlichere Lösung die Bündelung über Inseln ist. „Alles, was küstennah ist, macht man zwar weiter radial — das betrifft etwa 100 Gigawatt — für die anderen 200 Gigawatt sind Energieinseln jedoch die bessere Option.“ Je nach Konzeption wären bei den Plänen in der Nordsee damit insgesamt etwa acht Energieinseln notwendig. Für weitere Inseln eignet sich die Doggerbank, eine riesige unter dem Meer liegende etwa 300 bis 350 Kilometer lange und bis zu 120 Kilometer breite Sandbank. „Sie liegt geografisch auch sehr günstig, weil von dort die britische, europäische und skandinavische Küste etwa gleich weit entfernt sind“, ergänzt Nielsen.
Die technischen und wirtschaftlichen Machbarkeitsstudien hat das North Sea Wind Power Hub Programme jedenfalls vorgelegt. Jetzt ist die Politik am Zug, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Pläne auch in die Realität umgesetzt werden können. „Wir als Reinhausen Gruppe bieten die Technik und Serviceleistungen, damit das Netz auf dem Meer genauso zuverlässig funktioniert wie an Land. Wir haben zudem bereits langjährige Erfahrungen mit maritimen Lösungen“, betont Breuer. Nielsen denkt auch schon über die Nordsee hinaus. Denn das Modell könnte auch Vorbild für andere Weltregionen sein: „In Asien steht der Windkraftausbau noch ganz am Anfang, auch dort gibt es ambitionierte Klimaziele.“ Mit seinem Beratungsunternehmen möchte er dazu beitragen, dass diese erreicht werden.
Was passiert auf den Energieinseln?
Die künstlichen Inseln könnten weit mehr sein als bloßer Verteilungshub. Der Windstrom könnte auch gleich vor Ort für Rechenzentren oder Elektrolyseanlagen verwendet werden.
Klicken Sie auf die -Zeichen für weitere Informationen zu den Bereichen.
Die Vernetzung der Meere
Erfahren Sie mehr über die Inselprojekte und die Produkte von MR
Tim Meyerjürgens von TenneT im Interview
IHR ANSPRECHPARTNER
Haben Sie Fragen zu unseren maritimen Lösungen?
Johannes Gebauer ist für Sie da:
J.Gebauer@reinhausen.com